Angriff auf Völkerrecht
Donnerstag, 24. Juni 2010 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
»Free Gaza« oder was die freie Welt unter Freiheit versteht
Norman PaechNun, da das letzte Schiff unserer Flotte, die »Rachel Corrie« aus Irland, von der israelischen Kriegsmarine aufgebracht und nach Aschdod entführt worden ist, können wir ein kurzes und vorläufiges Resümee ziehen. Und dieses kann durchaus lauten, daß das Projekt gescheitert ist: Wir haben die 10000 Tonnen ziviler und humanitärer Güter nicht an ihr Ziel nach Gaza bringen können. Sie waren dafür gedacht, den Wiederaufbau voranzubringen. Die Frachtschiffe sollten auch dringend benötigtes medizinisches Gerät, welches Israel nicht durch die hermetisch abgeriegelte Grenze läßt – wie Rollstühle, eine vollständige Zahnarztpraxis und Tonnen von Medikamenten – sowie Unterrichtsmaterial für die Kinder nach Gaza liefern. Die wiederholten Anschuldigungen, es sei beabsichtigt worden, auch Waffen zu schmuggeln, haben sich definitiv als falsch erwiesen. Denn alle Frachter wurden von den Israelis in Aschdod gelöscht, nicht eine Rakete oder Pistole wurde gefunden.
Folgen der Blockade
Das Angebot der israelischen Behörden, ausgewählte Güter der Flottille auf dem Landweg nach Gaza zu transportieren, hat die Hamas-Regierung nicht rundheraus abgelehnt, sondern unter drei Bedingungen akzeptiert: Es müssen alle Gefangenen der »Free Gaza«-Schiffe freigelassen werden, eine unabhängige internationale Untersuchungskommission muß alle Umstände der Kaperung und Entführung der Schiffe ungehindert untersuchen können, und die Blockade Gazas muß aufgehoben werden. Da nur die erste Bedingung erfüllt ist, hat die Hamas das Angebot abgelehnt, denn die Annahme könnte bedeuten, daß sie die Blockade und die willkürliche Grenzöffnung für ausgewählte Güter letztlich akzeptiert.
Und hier liegt der zweite Grund, weshalb von einem Scheitern gesprochen werden kann: Wir haben die Blockade weder durchbrechen noch entscheidend erschüttern können, so daß sie in Kürze aufgehoben würde. Israels Premier Benjamin Netanjahu hat ihre Fortdauer sofort versichert und sie jetzt lediglich für Limonade und Süßigkeiten »gelockert« – Waren, die ohnehin durch die Tunnel kommen. Was die in dieser Woche angekündigten Lockerungen der Bevölkerung bringen werden, bleibt abzuwarten. Nach wie vor lassen die Israelis nur 40 von über 4000 vor 2007 gelieferter Warentypen durch die Checkpoints, und der Export nach Israel ist auf ein Viertel geschrumpft. Die Strategie ist eindeutig: Ein Wiedererstarken der Wirtschaft in Gaza soll ebenso verhindert werden wie eine humanitäre Krise. Die US-Regierung hat zwar wie die Bundesregierung und die EU ihre Kritik geäußert, allerdings keine Konsequenzen angekündigt.
Dennoch hat dieser Mißerfolg auch eindeutig positive Seiten. Die Bevölkerung des Gazastreifens hat mit dem Friedensmarsch im Dezember 2009 und der »Free Gaza«-Flottille zum ersten Mal seit Jahren ein Zeichen internationaler Solidarität erlebt, die ihr bisher vollkommen versagt geblieben war. Denn die Regierungen der USA und EU haben nicht nur die Blockade der Israelis geduldet, sondern diese durch ihren eigenen politischen Boykott der Hamas, immerhin dem Wahlsieger von 2006, aktiv unterstützt. Sie haben ihren eigenen Staatsangehörigen faktisch jeden Zutritt untersagt und jede aktive Solidarität mit der Bevölkerung verhindert, aus der Angst heraus, sie könne der Hamas zugute kommen. Die Hilfslieferungen der EU und der UNWRA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), gefiltert durch israelische Kontrollen, haben die Bevölkerung zwar vor dem Verhungern gerettet. Gleichzeitig stabilisieren die westlichen Regierungen aber damit die Blockade, daß sie die Restriktionen Israels akzeptieren – die Lieferungen machen sie allenfalls erträglicher und tragen nicht dazu bei, die strangulierte Bevölkerung von der Blockade zu befreien. Unsere Fahrt hat zumindest die Weltöffentlichkeit darauf hingewiesen, wie unhaltbar die Situation ist und wie brutal – ohne Rücksicht auf Menschenleben und das geltende Völkerrecht – diese kollektive Bestrafung von 1,5 Millionen Menschen organisiert wird. Ein Skandal ist, daß es dazu offensichtlich erst des Todes und der Verletzung so vieler Menschen – allerdings nur einem Bruchteil der Toten und Verletzten im Gaza-Krieg vor einem Jahr! – bedurfte, um die Regierungen und den UN-Generalsekretär wenigstens jetzt offen aussprechen zu lassen, daß die Blockade aufgehoben werden muß. Der Druck auf die israelische Regierung wird größer, aber was muß noch alles passieren, bis sie wirklich zum Umdenken bereit ist?
Die Bedrohung der israelischen Bevölkerung durch die Raketen, die immer noch regelmäßig von Gaza aus abgefeuert werden, ist weder politisch noch juristisch zu rechtfertigen. Doch sollte endlich begriffen werden, daß sie eine Folge von Besatzung und Blockade sind. Für diese Angriffe ist jetzt nicht die Hamas, sondern sind weit radikalere Gruppen verantwortlich. Aus Israel hören wir immer wieder, man habe alles versucht, diese Bedrohung abzuwenden, bis hin zur massiven militärischen Intervention. Nichts habe genutzt, also müsse es bei der Blockade bleiben. In der Tat, man hat jede Form der Gewalt angewandt, nur die einzig erfolgversprechende Reaktion hat man verweigert: den wirklich gleichberechtigten Dialog, die Aufhebung der Blockade, die Beseitigung der Besatzung, den Rückzug der Siedler und die Gewährung eines souveränen und unabhängigen Staates Palästina mit klaren und sicheren Grenzen.
Piraterie und ihre Rechtfertigung
Die Vorgänge bei der Kaperung der sechs Schiffe sind inzwischen weitgehend bekannt und werden durch weitere Zeugen immer detaillierter ergänzt. In zwei Dingen stimmen sie alle überein: Es gab auf keinem Schiff Waffen, außer den stets in den Medien präsentierten Stöcken, Eisenstangen und Messern. Von dem Waffenarsenal der israelischen Armee und ihrem tödlichen Einsatz hingegen spricht niemand, und gibt es keine Bilder: nicht nur Schlagstöcke, sondern Blendschockgranaten, Maschinengewehre, Pistolen, Paintbullet-Pumpguns und Elektroschockwaffen. Kein Bild von den toten oder verwundeten Passagieren, alle Film- und Fotoapparate der Mitfahrenden wurden konfisziert, ihr Filmmaterial befindet sich im Besitz der israelischen Streitkräfte. Zu sehen waren nur Bilder von verletzten israelischen Soldaten mit Netanjahu an ihrer Seite – deutlicher kann man in diesem Konflikt kaum Partei ergreifen. Alle Medien, mit sehr seltenen Ausnahmen, haben allein durch ihre Bildauswahl das Verhältnis von Angreifer und Verteidiger umgekehrt. Die Medien haben sich vollständig der Bilderhoheit der israelischen Armee unterworfen.
Schließlich hat die israelische Regierung eingeräumt, daß die Kaperung in internationalen Gewässern erfolgt ist – sogar außerhalb der kurz zuvor von ihr ausgerufenen militärischen Sperrzone von 68 Meilen vor der Küste. Mit der schwindenden Überzeugungskraft des Bildmaterials, mit welchem die israelische Regierung alle internationalen Medien versorgt, beginnt nunmehr der Abwehrkampf an der ideologischen Front. Er wird von vielen Medien bereitwillig aufgenommen und als eigenständiger Entlastungsangriff gegen »Free Gaza« und ihre Schiffe geführt. Es geht zum einen darum, die »Free Gaza«-Bewegung zu delegitimieren und zum anderen wird bezweckt, die israelische Aktion als »Selbstverteidigung« zu rechtfertigen.
Delegitimierungsversuche
Ansatzpunkt für die Delegitimierung des »Free Gaza«-Unternehmens ist die Beteiligung der IHH, der »Stiftung für Menschenrechte und Freiheit« mit Sitz in Istanbul; sie organisierte als einer der zahlreichen Koalitionspartner von »Free Gaza« die »Mavi Marmara«. Der Vorwurf lautet, es handele sich um eine Ansammlung radikaler Islamisten, Antisemiten und Faschisten, eine »wohlorganisierte islamistische Kadergruppe« (FAZ v. 11.6.2010). Tatsache ist, daß die IHH eine von weltweit 3000 Nichtregierungsorganisationen ist, die beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) beratenden Status haben. Dazu muß eine Organisation nachweisen, daß sie eine demokratisch angenommene Satzung hat, die Befugnis besitzt, für ihre Mitglieder zu sprechen (Satzung mit Vertretungsrecht), und sie muß angemessene Mechanismen in punkto Rechenschaftspflicht, demokratischen und transparenten Entscheidungsprozessen nachweisen. Die IHH steht auf keiner der berüchtigten Terrorlisten. Die Stiftung ist jüngeren Datums, mit dem Bosnien-Krieg entstanden, wo sie erste humanitäre und Entwicklungsprojekte durchführte. Nach Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit ist sie seitdem im Sudan, Somalia, Jemen, Pakistan, Irak, Niger und anderen Ländern mit ähnlichen Entwicklungsprojekten tätig, wie wir sie von Misereor, der evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Medico International oder dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) kennen. Seit der vollständigen Abriegelung des Gazastreifens durch Israel im Juli 2007 arbeitet die IHH auch in Gaza und sendet Hilfskonvois über Rafah. Daß sie dabei mit der Hamas kooperiert, ist selbstverständlich und nur noch bei den verbohrtesten Köpfen ein Stein des Anstoßes – schließlich fordert selbst Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in der BRD, öffentlich Gespräche mit der Hamas. »Nimmt man die Bilder und die Eindrücke aus dem IHH-Hauptquartier in Fatih zusammen«, so Michael Thumann in Die Zeit vom 1.6.2010, »ist hier beileibe kein radikalislamischer Verein als Subunternehmer von Hamas zu besichtigen. Es ist ein Hilfsverein und, ja, er wird von konservativen, gläubigen Muslimen getragen. Aber er ist offensichtlich unabhängig. IHH hat Kontakte zu Hamas – so wie türkische Behörden, wie die russische Regierung, wie europäische Abgeordnete auch.« Eine Verbindung zu Al-Qaida oder Dschihad haben weder Thumann noch irgend jemand von der FAZ feststellen können. Es handelt sich um bloße Verdächtigungen, die allein dem Zweck dienen, »Free Gaza« in Mißkredit zu bringen.
»Free Gaza« ist eine dezentral von Washington und London aus agierende Organisation, die bereits im Juli 2009 zwei Schiffe nach Gaza geschickt hatte, die »Dignity« und die »Spirit of Humanity«. Letztere wurde von der israelischen Armee in internationalen Gewässern aufgebracht und bis heute nicht an die Organisation zurückgegeben. Die türkische Hilfsorganisation IHH ist wie andere mit der »Free-Gaza«-Bewegung eine Koalition zur Durchführung der Fahrt der Flottille eingegangen. Gemeinsame Basis war stets und ist weiterhin der Aufruf an die Weltgemeinschaft zur gewaltfreien Beendigung der Blockade und die Hilfe für die Bevölkerung durch Auslieferung von Hilfsgütern. Die Verteilung soll durch Nichtregierungsorganisationen in Gaza vorgenommen werden. Gleichgültig, ob Christen, Muslims, Buddhisten oder Atheisten, es waren Menschen aus über 30 Staaten auf den Schiffen, die einigen wenigen gemeinsamen Grundprinzipien verpflichtet waren: weder parteipolitische Ziele noch Missionierung, absolute Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, Verzicht auf jegliche Waffen an Bord und Toleranz untereinander. Es gibt keine Anzeichen, daß diese Grundprinzipien nicht eingehalten wurden.
Illegale Gewalt
Die zweite Strategie zielt auf die völkerrechtliche Legitimierung des israelischen Angriffs. Ihr Grundtenor in Israel lautet Selbstverteidigung, da man sich mit Gaza im Krieg befinde. Simon Stein, Exbotschafter Israels in Deutschland, bemüht zur Rechtfertigung sogar die US-Blockade der sowjetischen Frachter, die 1962 mit Raketen nach Kuba unterwegs waren. Aber auch außerhalb Israels erheben sich Stimmen, die den israelischen Streitkräften ein Recht zur Seeblockade zugestehen wollen. Andere Stimmen beziehen sich auf das Handbuch von San Remo über das Recht in bewaffneten Konflikten zur See von 1994, in dem den kriegführenden Gegnern ein Recht zur Blockade zugesprochen wird. Voraussetzung für eine legitime Seeblockade ist also ein Krieg.
Wir haben gerade eine extensive Debatte über den Kriegsbegriff beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan hinter uns. Dabei haben sich Regierung und Parlament nur mühsam zu der Erkenntnis durchringen können, daß es sich in Afghanistan in der Tat um einen Krieg, völkerrechtlich um einen bewaffneten Konflikt handelt. Für die vollkommen anders geartete Situation in Gaza sollte doch klar sein, daß die dort leider üblichen gegenseitigen Gewaltmaßnahmen – vereinzelte Raketen auf die Grenzgebiete Israels und gezielte Tötungen durch Drohnen und Artillerie im Gazastreifen – nicht die Kriterien eines Krieges oder bewaffneten Konflikts erfüllen. Die Militärintervention der israelischen Streitkräfte im Dezember 2008 bis Januar 2009 war ein Krieg. Die Gewalt ist zwar nicht gestoppt, aber jetzt ist es ein Wirtschaftskrieg, den Israel gegen den Gazastreifen führt – eine Seeblockade außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer und der selbsterklärten militärischen Sperrzone ist völkerrechtlich nicht zu legitimieren.
Israel hatte bereits weit im Vorfeld durch Sabotage versucht, die Flottille zu stoppen. Beide Motorjachten, »Challenger I« und »II«, bekamen in der Nacht nach ihrem Auslaufen aus dem Hafen von Agios Nikolaos auf Kreta technische Probleme. Zunächst war es bei der »Challenger II« ein Schaden an einem Motorfilter, der behoben werden konnte. Danach fiel die Steuerung aus, so daß die Passagiere auf die »Mavi Marmara« übergesetzt werden mußten. Auch die »Challenger I« hatte Probleme mit der Steuerung und der Wasserpumpe. Die konnte aber noch Famagusta auf Zypern anlaufen, wo die Schäden soweit repariert wurden, daß sie ihre Fahrt fortsetzen und die anderen Schiffe an dem vereinbarten Treffpunkt erreichen konnte. Erst durch hiesige Zeitungsberichte (FAZ v. 2.6.2010) wurde unser Verdacht bestätigt, daß es sich um einen Sabotageakt der israelischen Marine gehandelt hatte. Ob das auch für den Maschinenschaden der »Rachel Corrie« gilt, ist ungeklärt.
Dem Angriff auf die »Mavi Marmara« gingen Funkkontakte zur israelischen Marine voraus, die aber die Schiffe nicht bewegen konnten, ihren Kurs zu ändern, da sie sich in internationalen Gewässern befanden. Seit Hugo Grotius (1583–1645), einem der Urväter des Völkerrechts, gilt dort der Grundsatz der »Freiheit der Meere«. Der Angriff mit Blendschockgranaten am 31. Mai um 4.20 Uhr am Morgen kam vollkommen überraschend ohne Vorwarnung. Ihm folgte unmittelbar der Angriff aus der Luft von Helikoptern aus. Es gäbe noch viel zu klären über Umstände und Ablauf dieses Angriffs, der zeitgleich, aber zum Glück ohne Tote oder schwerer Verletzte, gegen alle anderen fünf Schiffe geführt wurde. Eine unabhängige internationale Untersuchung ist deswegen unbedingt notwendig.
Kriegs- oder Friedensrecht?
Klar ist allerdings jetzt schon, daß dieser Angriff, die Besetzung der Schiffe, die Tötung von mindestens neun und Verletzung von über 20 Passagieren, die Fesselung aller Besatzungsmitglieder und Passagiere sowie Entführung in den Hafen von Aschdod ein schwerer Verstoß gegen geltendes Völkerrecht ist. Es war schlicht ein Akt der Piraterie. Nach Artikel 3 der »Römischen Konvention zur Unterdrückung rechtswidriger Akte gegen die Sicherheit der Seeschiffahrt« von 1988 ist jede Eroberung eines Schiffes oder Kontrolle mit Mitteln der Gewalt ein internationales Verbrechen. Artikel 3 war lediglich die Kodifizierung eines damals schon geltenden gewohnheitsrechtlichen Verbots der Piraterie, eine Reaktion auf die Kaperung des italienischen Kreuzfahrtschiffs »Achille Lauro« im Oktober 1985. Ein palästinensisches Kommando hatte das Schiff geentert und den behinderten jüdisch-amerikanischen Passagier Leo Klinghoffer getötet und über Bord geworfen. Damals ging zu Recht ein Schrei der Empörung um die Welt. Man kann nicht ein Schiff angreifen und sich dann auf Notwehr berufen, wenn sich die Besatzung und Passagiere wehren.
Die israelische Regierung selbst vertritt öffentlich den Standpunkt, daß Gaza nach dem Rückzug 2005 nicht mehr zu ihrem Besatzungsgebiet im Sinne des Kriegsvölkerrechts (Haager Konventionen von 1907) gehöre, sie also auch keine Hoheitsrechte in diesem Gebiet mehr habe. Sie hat damit auch nicht das Recht, Gaza vom Meer abzuschneiden und den Hafen für ausländische Schiffe zu sperren.
Ist also Kriegsrecht nicht anwendbar, so reduziert sich die Möglichkeit der israelischen Marine, Schiffe auf hoher See zu kontrollieren und zu durchsuchen, auf jene ausnahmsweisen Fälle, in denen ein begründeter Verdacht besteht, daß Schiff verfolge illegale Ziele und Aktivitäten, wie Schmuggel, Piraterie oder Menschenhandel. Die Güter unserer Flottille waren öffentlich verladen und durch die Hafenbehörden kontrolliert worden, es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Waffen geschmuggelt werden sollten.
Selbst wenn man den israelischen Streitkräften angesichts der immer wieder aufflammenden Gewalttätigkeiten ein Selbstverteidigungsrecht oder ein Kontrollrecht der Schiffe einräumen würde, war diese Art Kontrolle mit Waffengewalt, Toten und Verletzten vollkommen unverhältnismäßig und schon deshalb rechtswidrig. Das internationale Seerecht fordert, das solche Durchsuchungen mit der größten Zurückhaltung vorgenommen werden, denn es handelt sich für gewöhnlich um einen Eingriff in fremde Souveränitätsrechte.
Ist dieser Angriff auf die »Mavi Marmara« auch ohne umfangreiche Untersuchungen auf jeden Fall als rechtswidrig einzustufen, so hatten Besatzung und Passagiere jedes Recht, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Da ein Angriff auf ein Schiff wie ein Angriff auf das Territorium des Heimatstaates zu werten ist, hätte dieser Vorfall sogar zu einer dramatischen Konfrontation mit der Türkei führen können. Denn die Türkei hätte ihrem Schiff militärisch zu Hilfe eilen können. Was die Staaten vor Somalia als selbstverständliches Recht gegenüber den Piraten in Anspruch nehmen, gilt auch vor der Küste Israels und des Gazastreifens. Wir können froh sein, daß es dazu nicht gekommen ist.
Gaza – freies Territorium?
Die israelische Regierung betrachtet Gaza als hoheitsfreies Territorium, nicht als Besatzungsgebiet, was es nach dem Rückzug der israelischen Siedler und Truppen 2005 für kurze Zeit war. In der Tat ist Gaza kein Staat, es ist juristisch kaum zu definieren. Sicher aber ist, daß es keinem der Nachbarstaaten erlaubt ist, ob Ägypten oder Israel, Hoheitsrechte über Gaza auszuüben wie das Sperren des Hafens oder das Verbot der Fischerei. Jeder Staat darf seine Grenzen schließen, aber nicht in der Weise, daß der Nachbar faktisch jeder Bewegungsfreiheit beraubt und eingeschnürt wird, wie es Israel mit Gaza praktiziert. Tatsächlich ist der Gazastreifen jedoch spätestens seit 2007 wieder ein besetztes Land, was Israel nach den Haager Konventionen zur weitgehenden Versorgung der Bevölkerung verpflichtet. Doch Tel Aviv kümmert sich nicht darum, im Gegenteil. Die Blockade trifft das ganze Volk, ihre Auswirkungen, das Elend, die offenen Zerstörungen und die Vernichtung zahlreicher Lebensgrundlagen sind allgemein bekannt.
Wie man es auch dreht oder wendet, ob wir die israelische Position akzeptieren, daß Gaza ein hoheitsfreies Territorium ist und damit Friedensrecht gilt, oder Gaza erneut besetzt und sich erneut im Krieg mit Israel befindet und deshalb Kriegsvölkerrecht anzuwenden ist: Die Blockade ist in jedem Fall rechtswidrig. Sie wirkt wie eine Kollektivbestrafung, die nach internationalem Recht verboten ist. Ja, es wäre zu prüfen, ob sie nicht den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt, wie es in Artikel 7 des Römischen Statuts von 1998 als Handlung, »die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs« definiert wird. Dieser Vorwurf trifft nicht allein Israel, sondern die USA und die EU-Staaten gleichermaßen, da sie in voller Kenntnis des Elends und der Zerstörungen diese Blockade unterstützen.
Viereinhalb Milliarden US-Dollar sind vor einem Jahr auf der Staatenkonferenz in Scharm El Scheich für den Wiederaufbau des Gazastreifens zur Verfügung gestellt worden. Nicht einmal die Zinsen konnten für Baumaterialien verwendet werden, weil letztere die Checkpoints Israels nicht passieren können. Die USA haben erneut 400 Millionen Dollar für Gaza versprochen. Es sind bislang alles nur symbolische und leider nutzlose Versprechen, da die Grenzen weiterhin gesperrt sind. Es gibt nur einen Weg, Gaza aus dem Elend zu befreien: die restlose Aufhebung der Blockade. Diesem Ziel weiß sich »Free Gaza« auch weiter verpflichtet.
Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht; er war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von IPPNW. Er hat den Überfall der israelischen Marine auf die Solidaritätsflottille des Free-Gaza-Movements an Bord eines der Schiffe miterlebt.
Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2010/06-16/022.php
(c) Junge Welt 2010
Angriff auf Völkerrecht
Hintergrund. »Free Gaza« oder was die freie Welt unter Freiheit versteht
Norman PaechFolgen der Blockade
Das Angebot der israelischen Behörden, ausgewählte Güter der Flottille auf dem Landweg nach Gaza zu transportieren, hat die Hamas-Regierung nicht rundheraus abgelehnt, sondern unter drei Bedingungen akzeptiert: Es müssen alle Gefangenen der »Free Gaza«-Schiffe freigelassen werden, eine unabhängige internationale Untersuchungskommission muß alle Umstände der Kaperung und Entführung der Schiffe ungehindert untersuchen können, und die Blockade Gazas muß aufgehoben werden. Da nur die erste Bedingung erfüllt ist, hat die Hamas das Angebot abgelehnt, denn die Annahme könnte bedeuten, daß sie die Blockade und die willkürliche Grenzöffnung für ausgewählte Güter letztlich akzeptiert.
Und hier liegt der zweite Grund, weshalb von einem Scheitern gesprochen werden kann: Wir haben die Blockade weder durchbrechen noch entscheidend erschüttern können, so daß sie in Kürze aufgehoben würde. Israels Premier Benjamin Netanjahu hat ihre Fortdauer sofort versichert und sie jetzt lediglich für Limonade und Süßigkeiten »gelockert« – Waren, die ohnehin durch die Tunnel kommen. Was die in dieser Woche angekündigten Lockerungen der Bevölkerung bringen werden, bleibt abzuwarten. Nach wie vor lassen die Israelis nur 40 von über 4000 vor 2007 gelieferter Warentypen durch die Checkpoints, und der Export nach Israel ist auf ein Viertel geschrumpft. Die Strategie ist eindeutig: Ein Wiedererstarken der Wirtschaft in Gaza soll ebenso verhindert werden wie eine humanitäre Krise. Die US-Regierung hat zwar wie die Bundesregierung und die EU ihre Kritik geäußert, allerdings keine Konsequenzen angekündigt.
Dennoch hat dieser Mißerfolg auch eindeutig positive Seiten. Die Bevölkerung des Gazastreifens hat mit dem Friedensmarsch im Dezember 2009 und der »Free Gaza«-Flottille zum ersten Mal seit Jahren ein Zeichen internationaler Solidarität erlebt, die ihr bisher vollkommen versagt geblieben war. Denn die Regierungen der USA und EU haben nicht nur die Blockade der Israelis geduldet, sondern diese durch ihren eigenen politischen Boykott der Hamas, immerhin dem Wahlsieger von 2006, aktiv unterstützt. Sie haben ihren eigenen Staatsangehörigen faktisch jeden Zutritt untersagt und jede aktive Solidarität mit der Bevölkerung verhindert, aus der Angst heraus, sie könne der Hamas zugute kommen. Die Hilfslieferungen der EU und der UNWRA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), gefiltert durch israelische Kontrollen, haben die Bevölkerung zwar vor dem Verhungern gerettet. Gleichzeitig stabilisieren die westlichen Regierungen aber damit die Blockade, daß sie die Restriktionen Israels akzeptieren – die Lieferungen machen sie allenfalls erträglicher und tragen nicht dazu bei, die strangulierte Bevölkerung von der Blockade zu befreien. Unsere Fahrt hat zumindest die Weltöffentlichkeit darauf hingewiesen, wie unhaltbar die Situation ist und wie brutal – ohne Rücksicht auf Menschenleben und das geltende Völkerrecht – diese kollektive Bestrafung von 1,5 Millionen Menschen organisiert wird. Ein Skandal ist, daß es dazu offensichtlich erst des Todes und der Verletzung so vieler Menschen – allerdings nur einem Bruchteil der Toten und Verletzten im Gaza-Krieg vor einem Jahr! – bedurfte, um die Regierungen und den UN-Generalsekretär wenigstens jetzt offen aussprechen zu lassen, daß die Blockade aufgehoben werden muß. Der Druck auf die israelische Regierung wird größer, aber was muß noch alles passieren, bis sie wirklich zum Umdenken bereit ist?
Die Bedrohung der israelischen Bevölkerung durch die Raketen, die immer noch regelmäßig von Gaza aus abgefeuert werden, ist weder politisch noch juristisch zu rechtfertigen. Doch sollte endlich begriffen werden, daß sie eine Folge von Besatzung und Blockade sind. Für diese Angriffe ist jetzt nicht die Hamas, sondern sind weit radikalere Gruppen verantwortlich. Aus Israel hören wir immer wieder, man habe alles versucht, diese Bedrohung abzuwenden, bis hin zur massiven militärischen Intervention. Nichts habe genutzt, also müsse es bei der Blockade bleiben. In der Tat, man hat jede Form der Gewalt angewandt, nur die einzig erfolgversprechende Reaktion hat man verweigert: den wirklich gleichberechtigten Dialog, die Aufhebung der Blockade, die Beseitigung der Besatzung, den Rückzug der Siedler und die Gewährung eines souveränen und unabhängigen Staates Palästina mit klaren und sicheren Grenzen.
Piraterie und ihre Rechtfertigung
Die Vorgänge bei der Kaperung der sechs Schiffe sind inzwischen weitgehend bekannt und werden durch weitere Zeugen immer detaillierter ergänzt. In zwei Dingen stimmen sie alle überein: Es gab auf keinem Schiff Waffen, außer den stets in den Medien präsentierten Stöcken, Eisenstangen und Messern. Von dem Waffenarsenal der israelischen Armee und ihrem tödlichen Einsatz hingegen spricht niemand, und gibt es keine Bilder: nicht nur Schlagstöcke, sondern Blendschockgranaten, Maschinengewehre, Pistolen, Paintbullet-Pumpguns und Elektroschockwaffen. Kein Bild von den toten oder verwundeten Passagieren, alle Film- und Fotoapparate der Mitfahrenden wurden konfisziert, ihr Filmmaterial befindet sich im Besitz der israelischen Streitkräfte. Zu sehen waren nur Bilder von verletzten israelischen Soldaten mit Netanjahu an ihrer Seite – deutlicher kann man in diesem Konflikt kaum Partei ergreifen. Alle Medien, mit sehr seltenen Ausnahmen, haben allein durch ihre Bildauswahl das Verhältnis von Angreifer und Verteidiger umgekehrt. Die Medien haben sich vollständig der Bilderhoheit der israelischen Armee unterworfen.
Schließlich hat die israelische Regierung eingeräumt, daß die Kaperung in internationalen Gewässern erfolgt ist – sogar außerhalb der kurz zuvor von ihr ausgerufenen militärischen Sperrzone von 68 Meilen vor der Küste. Mit der schwindenden Überzeugungskraft des Bildmaterials, mit welchem die israelische Regierung alle internationalen Medien versorgt, beginnt nunmehr der Abwehrkampf an der ideologischen Front. Er wird von vielen Medien bereitwillig aufgenommen und als eigenständiger Entlastungsangriff gegen »Free Gaza« und ihre Schiffe geführt. Es geht zum einen darum, die »Free Gaza«-Bewegung zu delegitimieren und zum anderen wird bezweckt, die israelische Aktion als »Selbstverteidigung« zu rechtfertigen.
Delegitimierungsversuche
Ansatzpunkt für die Delegitimierung des »Free Gaza«-Unternehmens ist die Beteiligung der IHH, der »Stiftung für Menschenrechte und Freiheit« mit Sitz in Istanbul; sie organisierte als einer der zahlreichen Koalitionspartner von »Free Gaza« die »Mavi Marmara«. Der Vorwurf lautet, es handele sich um eine Ansammlung radikaler Islamisten, Antisemiten und Faschisten, eine »wohlorganisierte islamistische Kadergruppe« (FAZ v. 11.6.2010). Tatsache ist, daß die IHH eine von weltweit 3000 Nichtregierungsorganisationen ist, die beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) beratenden Status haben. Dazu muß eine Organisation nachweisen, daß sie eine demokratisch angenommene Satzung hat, die Befugnis besitzt, für ihre Mitglieder zu sprechen (Satzung mit Vertretungsrecht), und sie muß angemessene Mechanismen in punkto Rechenschaftspflicht, demokratischen und transparenten Entscheidungsprozessen nachweisen. Die IHH steht auf keiner der berüchtigten Terrorlisten. Die Stiftung ist jüngeren Datums, mit dem Bosnien-Krieg entstanden, wo sie erste humanitäre und Entwicklungsprojekte durchführte. Nach Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit ist sie seitdem im Sudan, Somalia, Jemen, Pakistan, Irak, Niger und anderen Ländern mit ähnlichen Entwicklungsprojekten tätig, wie wir sie von Misereor, der evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Medico International oder dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) kennen. Seit der vollständigen Abriegelung des Gazastreifens durch Israel im Juli 2007 arbeitet die IHH auch in Gaza und sendet Hilfskonvois über Rafah. Daß sie dabei mit der Hamas kooperiert, ist selbstverständlich und nur noch bei den verbohrtesten Köpfen ein Stein des Anstoßes – schließlich fordert selbst Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in der BRD, öffentlich Gespräche mit der Hamas. »Nimmt man die Bilder und die Eindrücke aus dem IHH-Hauptquartier in Fatih zusammen«, so Michael Thumann in Die Zeit vom 1.6.2010, »ist hier beileibe kein radikalislamischer Verein als Subunternehmer von Hamas zu besichtigen. Es ist ein Hilfsverein und, ja, er wird von konservativen, gläubigen Muslimen getragen. Aber er ist offensichtlich unabhängig. IHH hat Kontakte zu Hamas – so wie türkische Behörden, wie die russische Regierung, wie europäische Abgeordnete auch.« Eine Verbindung zu Al-Qaida oder Dschihad haben weder Thumann noch irgend jemand von der FAZ feststellen können. Es handelt sich um bloße Verdächtigungen, die allein dem Zweck dienen, »Free Gaza« in Mißkredit zu bringen.
»Free Gaza« ist eine dezentral von Washington und London aus agierende Organisation, die bereits im Juli 2009 zwei Schiffe nach Gaza geschickt hatte, die »Dignity« und die »Spirit of Humanity«. Letztere wurde von der israelischen Armee in internationalen Gewässern aufgebracht und bis heute nicht an die Organisation zurückgegeben. Die türkische Hilfsorganisation IHH ist wie andere mit der »Free-Gaza«-Bewegung eine Koalition zur Durchführung der Fahrt der Flottille eingegangen. Gemeinsame Basis war stets und ist weiterhin der Aufruf an die Weltgemeinschaft zur gewaltfreien Beendigung der Blockade und die Hilfe für die Bevölkerung durch Auslieferung von Hilfsgütern. Die Verteilung soll durch Nichtregierungsorganisationen in Gaza vorgenommen werden. Gleichgültig, ob Christen, Muslims, Buddhisten oder Atheisten, es waren Menschen aus über 30 Staaten auf den Schiffen, die einigen wenigen gemeinsamen Grundprinzipien verpflichtet waren: weder parteipolitische Ziele noch Missionierung, absolute Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, Verzicht auf jegliche Waffen an Bord und Toleranz untereinander. Es gibt keine Anzeichen, daß diese Grundprinzipien nicht eingehalten wurden.
Illegale Gewalt
Die zweite Strategie zielt auf die völkerrechtliche Legitimierung des israelischen Angriffs. Ihr Grundtenor in Israel lautet Selbstverteidigung, da man sich mit Gaza im Krieg befinde. Simon Stein, Exbotschafter Israels in Deutschland, bemüht zur Rechtfertigung sogar die US-Blockade der sowjetischen Frachter, die 1962 mit Raketen nach Kuba unterwegs waren. Aber auch außerhalb Israels erheben sich Stimmen, die den israelischen Streitkräften ein Recht zur Seeblockade zugestehen wollen. Andere Stimmen beziehen sich auf das Handbuch von San Remo über das Recht in bewaffneten Konflikten zur See von 1994, in dem den kriegführenden Gegnern ein Recht zur Blockade zugesprochen wird. Voraussetzung für eine legitime Seeblockade ist also ein Krieg.
Wir haben gerade eine extensive Debatte über den Kriegsbegriff beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan hinter uns. Dabei haben sich Regierung und Parlament nur mühsam zu der Erkenntnis durchringen können, daß es sich in Afghanistan in der Tat um einen Krieg, völkerrechtlich um einen bewaffneten Konflikt handelt. Für die vollkommen anders geartete Situation in Gaza sollte doch klar sein, daß die dort leider üblichen gegenseitigen Gewaltmaßnahmen – vereinzelte Raketen auf die Grenzgebiete Israels und gezielte Tötungen durch Drohnen und Artillerie im Gazastreifen – nicht die Kriterien eines Krieges oder bewaffneten Konflikts erfüllen. Die Militärintervention der israelischen Streitkräfte im Dezember 2008 bis Januar 2009 war ein Krieg. Die Gewalt ist zwar nicht gestoppt, aber jetzt ist es ein Wirtschaftskrieg, den Israel gegen den Gazastreifen führt – eine Seeblockade außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer und der selbsterklärten militärischen Sperrzone ist völkerrechtlich nicht zu legitimieren.
Israel hatte bereits weit im Vorfeld durch Sabotage versucht, die Flottille zu stoppen. Beide Motorjachten, »Challenger I« und »II«, bekamen in der Nacht nach ihrem Auslaufen aus dem Hafen von Agios Nikolaos auf Kreta technische Probleme. Zunächst war es bei der »Challenger II« ein Schaden an einem Motorfilter, der behoben werden konnte. Danach fiel die Steuerung aus, so daß die Passagiere auf die »Mavi Marmara« übergesetzt werden mußten. Auch die »Challenger I« hatte Probleme mit der Steuerung und der Wasserpumpe. Die konnte aber noch Famagusta auf Zypern anlaufen, wo die Schäden soweit repariert wurden, daß sie ihre Fahrt fortsetzen und die anderen Schiffe an dem vereinbarten Treffpunkt erreichen konnte. Erst durch hiesige Zeitungsberichte (FAZ v. 2.6.2010) wurde unser Verdacht bestätigt, daß es sich um einen Sabotageakt der israelischen Marine gehandelt hatte. Ob das auch für den Maschinenschaden der »Rachel Corrie« gilt, ist ungeklärt.
Dem Angriff auf die »Mavi Marmara« gingen Funkkontakte zur israelischen Marine voraus, die aber die Schiffe nicht bewegen konnten, ihren Kurs zu ändern, da sie sich in internationalen Gewässern befanden. Seit Hugo Grotius (1583–1645), einem der Urväter des Völkerrechts, gilt dort der Grundsatz der »Freiheit der Meere«. Der Angriff mit Blendschockgranaten am 31. Mai um 4.20 Uhr am Morgen kam vollkommen überraschend ohne Vorwarnung. Ihm folgte unmittelbar der Angriff aus der Luft von Helikoptern aus. Es gäbe noch viel zu klären über Umstände und Ablauf dieses Angriffs, der zeitgleich, aber zum Glück ohne Tote oder schwerer Verletzte, gegen alle anderen fünf Schiffe geführt wurde. Eine unabhängige internationale Untersuchung ist deswegen unbedingt notwendig.
Kriegs- oder Friedensrecht?
Klar ist allerdings jetzt schon, daß dieser Angriff, die Besetzung der Schiffe, die Tötung von mindestens neun und Verletzung von über 20 Passagieren, die Fesselung aller Besatzungsmitglieder und Passagiere sowie Entführung in den Hafen von Aschdod ein schwerer Verstoß gegen geltendes Völkerrecht ist. Es war schlicht ein Akt der Piraterie. Nach Artikel 3 der »Römischen Konvention zur Unterdrückung rechtswidriger Akte gegen die Sicherheit der Seeschiffahrt« von 1988 ist jede Eroberung eines Schiffes oder Kontrolle mit Mitteln der Gewalt ein internationales Verbrechen. Artikel 3 war lediglich die Kodifizierung eines damals schon geltenden gewohnheitsrechtlichen Verbots der Piraterie, eine Reaktion auf die Kaperung des italienischen Kreuzfahrtschiffs »Achille Lauro« im Oktober 1985. Ein palästinensisches Kommando hatte das Schiff geentert und den behinderten jüdisch-amerikanischen Passagier Leo Klinghoffer getötet und über Bord geworfen. Damals ging zu Recht ein Schrei der Empörung um die Welt. Man kann nicht ein Schiff angreifen und sich dann auf Notwehr berufen, wenn sich die Besatzung und Passagiere wehren.
Die israelische Regierung selbst vertritt öffentlich den Standpunkt, daß Gaza nach dem Rückzug 2005 nicht mehr zu ihrem Besatzungsgebiet im Sinne des Kriegsvölkerrechts (Haager Konventionen von 1907) gehöre, sie also auch keine Hoheitsrechte in diesem Gebiet mehr habe. Sie hat damit auch nicht das Recht, Gaza vom Meer abzuschneiden und den Hafen für ausländische Schiffe zu sperren.
Ist also Kriegsrecht nicht anwendbar, so reduziert sich die Möglichkeit der israelischen Marine, Schiffe auf hoher See zu kontrollieren und zu durchsuchen, auf jene ausnahmsweisen Fälle, in denen ein begründeter Verdacht besteht, daß Schiff verfolge illegale Ziele und Aktivitäten, wie Schmuggel, Piraterie oder Menschenhandel. Die Güter unserer Flottille waren öffentlich verladen und durch die Hafenbehörden kontrolliert worden, es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Waffen geschmuggelt werden sollten.
Selbst wenn man den israelischen Streitkräften angesichts der immer wieder aufflammenden Gewalttätigkeiten ein Selbstverteidigungsrecht oder ein Kontrollrecht der Schiffe einräumen würde, war diese Art Kontrolle mit Waffengewalt, Toten und Verletzten vollkommen unverhältnismäßig und schon deshalb rechtswidrig. Das internationale Seerecht fordert, das solche Durchsuchungen mit der größten Zurückhaltung vorgenommen werden, denn es handelt sich für gewöhnlich um einen Eingriff in fremde Souveränitätsrechte.
Ist dieser Angriff auf die »Mavi Marmara« auch ohne umfangreiche Untersuchungen auf jeden Fall als rechtswidrig einzustufen, so hatten Besatzung und Passagiere jedes Recht, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Da ein Angriff auf ein Schiff wie ein Angriff auf das Territorium des Heimatstaates zu werten ist, hätte dieser Vorfall sogar zu einer dramatischen Konfrontation mit der Türkei führen können. Denn die Türkei hätte ihrem Schiff militärisch zu Hilfe eilen können. Was die Staaten vor Somalia als selbstverständliches Recht gegenüber den Piraten in Anspruch nehmen, gilt auch vor der Küste Israels und des Gazastreifens. Wir können froh sein, daß es dazu nicht gekommen ist.
Gaza – freies Territorium?
Die israelische Regierung betrachtet Gaza als hoheitsfreies Territorium, nicht als Besatzungsgebiet, was es nach dem Rückzug der israelischen Siedler und Truppen 2005 für kurze Zeit war. In der Tat ist Gaza kein Staat, es ist juristisch kaum zu definieren. Sicher aber ist, daß es keinem der Nachbarstaaten erlaubt ist, ob Ägypten oder Israel, Hoheitsrechte über Gaza auszuüben wie das Sperren des Hafens oder das Verbot der Fischerei. Jeder Staat darf seine Grenzen schließen, aber nicht in der Weise, daß der Nachbar faktisch jeder Bewegungsfreiheit beraubt und eingeschnürt wird, wie es Israel mit Gaza praktiziert. Tatsächlich ist der Gazastreifen jedoch spätestens seit 2007 wieder ein besetztes Land, was Israel nach den Haager Konventionen zur weitgehenden Versorgung der Bevölkerung verpflichtet. Doch Tel Aviv kümmert sich nicht darum, im Gegenteil. Die Blockade trifft das ganze Volk, ihre Auswirkungen, das Elend, die offenen Zerstörungen und die Vernichtung zahlreicher Lebensgrundlagen sind allgemein bekannt.
Wie man es auch dreht oder wendet, ob wir die israelische Position akzeptieren, daß Gaza ein hoheitsfreies Territorium ist und damit Friedensrecht gilt, oder Gaza erneut besetzt und sich erneut im Krieg mit Israel befindet und deshalb Kriegsvölkerrecht anzuwenden ist: Die Blockade ist in jedem Fall rechtswidrig. Sie wirkt wie eine Kollektivbestrafung, die nach internationalem Recht verboten ist. Ja, es wäre zu prüfen, ob sie nicht den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt, wie es in Artikel 7 des Römischen Statuts von 1998 als Handlung, »die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs« definiert wird. Dieser Vorwurf trifft nicht allein Israel, sondern die USA und die EU-Staaten gleichermaßen, da sie in voller Kenntnis des Elends und der Zerstörungen diese Blockade unterstützen.
Viereinhalb Milliarden US-Dollar sind vor einem Jahr auf der Staatenkonferenz in Scharm El Scheich für den Wiederaufbau des Gazastreifens zur Verfügung gestellt worden. Nicht einmal die Zinsen konnten für Baumaterialien verwendet werden, weil letztere die Checkpoints Israels nicht passieren können. Die USA haben erneut 400 Millionen Dollar für Gaza versprochen. Es sind bislang alles nur symbolische und leider nutzlose Versprechen, da die Grenzen weiterhin gesperrt sind. Es gibt nur einen Weg, Gaza aus dem Elend zu befreien: die restlose Aufhebung der Blockade. Diesem Ziel weiß sich »Free Gaza« auch weiter verpflichtet.
Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht; er war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von IPPNW. Er hat den Überfall der israelischen Marine auf die Solidaritätsflottille des Free-Gaza-Movements an Bord eines der Schiffe miterlebt.
Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2010/06-16/022.php
(c) Junge Welt 2010
Angriff auf Völkerrecht
Hintergrund. »Free Gaza« oder was die freie Welt unter Freiheit versteht
Norman PaechFolgen der Blockade
Das Angebot der israelischen Behörden, ausgewählte Güter der Flottille auf dem Landweg nach Gaza zu transportieren, hat die Hamas-Regierung nicht rundheraus abgelehnt, sondern unter drei Bedingungen akzeptiert: Es müssen alle Gefangenen der »Free Gaza«-Schiffe freigelassen werden, eine unabhängige internationale Untersuchungskommission muß alle Umstände der Kaperung und Entführung der Schiffe ungehindert untersuchen können, und die Blockade Gazas muß aufgehoben werden. Da nur die erste Bedingung erfüllt ist, hat die Hamas das Angebot abgelehnt, denn die Annahme könnte bedeuten, daß sie die Blockade und die willkürliche Grenzöffnung für ausgewählte Güter letztlich akzeptiert.
Und hier liegt der zweite Grund, weshalb von einem Scheitern gesprochen werden kann: Wir haben die Blockade weder durchbrechen noch entscheidend erschüttern können, so daß sie in Kürze aufgehoben würde. Israels Premier Benjamin Netanjahu hat ihre Fortdauer sofort versichert und sie jetzt lediglich für Limonade und Süßigkeiten »gelockert« – Waren, die ohnehin durch die Tunnel kommen. Was die in dieser Woche angekündigten Lockerungen der Bevölkerung bringen werden, bleibt abzuwarten. Nach wie vor lassen die Israelis nur 40 von über 4000 vor 2007 gelieferter Warentypen durch die Checkpoints, und der Export nach Israel ist auf ein Viertel geschrumpft. Die Strategie ist eindeutig: Ein Wiedererstarken der Wirtschaft in Gaza soll ebenso verhindert werden wie eine humanitäre Krise. Die US-Regierung hat zwar wie die Bundesregierung und die EU ihre Kritik geäußert, allerdings keine Konsequenzen angekündigt.
Dennoch hat dieser Mißerfolg auch eindeutig positive Seiten. Die Bevölkerung des Gazastreifens hat mit dem Friedensmarsch im Dezember 2009 und der »Free Gaza«-Flottille zum ersten Mal seit Jahren ein Zeichen internationaler Solidarität erlebt, die ihr bisher vollkommen versagt geblieben war. Denn die Regierungen der USA und EU haben nicht nur die Blockade der Israelis geduldet, sondern diese durch ihren eigenen politischen Boykott der Hamas, immerhin dem Wahlsieger von 2006, aktiv unterstützt. Sie haben ihren eigenen Staatsangehörigen faktisch jeden Zutritt untersagt und jede aktive Solidarität mit der Bevölkerung verhindert, aus der Angst heraus, sie könne der Hamas zugute kommen. Die Hilfslieferungen der EU und der UNWRA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), gefiltert durch israelische Kontrollen, haben die Bevölkerung zwar vor dem Verhungern gerettet. Gleichzeitig stabilisieren die westlichen Regierungen aber damit die Blockade, daß sie die Restriktionen Israels akzeptieren – die Lieferungen machen sie allenfalls erträglicher und tragen nicht dazu bei, die strangulierte Bevölkerung von der Blockade zu befreien. Unsere Fahrt hat zumindest die Weltöffentlichkeit darauf hingewiesen, wie unhaltbar die Situation ist und wie brutal – ohne Rücksicht auf Menschenleben und das geltende Völkerrecht – diese kollektive Bestrafung von 1,5 Millionen Menschen organisiert wird. Ein Skandal ist, daß es dazu offensichtlich erst des Todes und der Verletzung so vieler Menschen – allerdings nur einem Bruchteil der Toten und Verletzten im Gaza-Krieg vor einem Jahr! – bedurfte, um die Regierungen und den UN-Generalsekretär wenigstens jetzt offen aussprechen zu lassen, daß die Blockade aufgehoben werden muß. Der Druck auf die israelische Regierung wird größer, aber was muß noch alles passieren, bis sie wirklich zum Umdenken bereit ist?
Die Bedrohung der israelischen Bevölkerung durch die Raketen, die immer noch regelmäßig von Gaza aus abgefeuert werden, ist weder politisch noch juristisch zu rechtfertigen. Doch sollte endlich begriffen werden, daß sie eine Folge von Besatzung und Blockade sind. Für diese Angriffe ist jetzt nicht die Hamas, sondern sind weit radikalere Gruppen verantwortlich. Aus Israel hören wir immer wieder, man habe alles versucht, diese Bedrohung abzuwenden, bis hin zur massiven militärischen Intervention. Nichts habe genutzt, also müsse es bei der Blockade bleiben. In der Tat, man hat jede Form der Gewalt angewandt, nur die einzig erfolgversprechende Reaktion hat man verweigert: den wirklich gleichberechtigten Dialog, die Aufhebung der Blockade, die Beseitigung der Besatzung, den Rückzug der Siedler und die Gewährung eines souveränen und unabhängigen Staates Palästina mit klaren und sicheren Grenzen.
Piraterie und ihre Rechtfertigung
Die Vorgänge bei der Kaperung der sechs Schiffe sind inzwischen weitgehend bekannt und werden durch weitere Zeugen immer detaillierter ergänzt. In zwei Dingen stimmen sie alle überein: Es gab auf keinem Schiff Waffen, außer den stets in den Medien präsentierten Stöcken, Eisenstangen und Messern. Von dem Waffenarsenal der israelischen Armee und ihrem tödlichen Einsatz hingegen spricht niemand, und gibt es keine Bilder: nicht nur Schlagstöcke, sondern Blendschockgranaten, Maschinengewehre, Pistolen, Paintbullet-Pumpguns und Elektroschockwaffen. Kein Bild von den toten oder verwundeten Passagieren, alle Film- und Fotoapparate der Mitfahrenden wurden konfisziert, ihr Filmmaterial befindet sich im Besitz der israelischen Streitkräfte. Zu sehen waren nur Bilder von verletzten israelischen Soldaten mit Netanjahu an ihrer Seite – deutlicher kann man in diesem Konflikt kaum Partei ergreifen. Alle Medien, mit sehr seltenen Ausnahmen, haben allein durch ihre Bildauswahl das Verhältnis von Angreifer und Verteidiger umgekehrt. Die Medien haben sich vollständig der Bilderhoheit der israelischen Armee unterworfen.
Schließlich hat die israelische Regierung eingeräumt, daß die Kaperung in internationalen Gewässern erfolgt ist – sogar außerhalb der kurz zuvor von ihr ausgerufenen militärischen Sperrzone von 68 Meilen vor der Küste. Mit der schwindenden Überzeugungskraft des Bildmaterials, mit welchem die israelische Regierung alle internationalen Medien versorgt, beginnt nunmehr der Abwehrkampf an der ideologischen Front. Er wird von vielen Medien bereitwillig aufgenommen und als eigenständiger Entlastungsangriff gegen »Free Gaza« und ihre Schiffe geführt. Es geht zum einen darum, die »Free Gaza«-Bewegung zu delegitimieren und zum anderen wird bezweckt, die israelische Aktion als »Selbstverteidigung« zu rechtfertigen.
Delegitimierungsversuche
Ansatzpunkt für die Delegitimierung des »Free Gaza«-Unternehmens ist die Beteiligung der IHH, der »Stiftung für Menschenrechte und Freiheit« mit Sitz in Istanbul; sie organisierte als einer der zahlreichen Koalitionspartner von »Free Gaza« die »Mavi Marmara«. Der Vorwurf lautet, es handele sich um eine Ansammlung radikaler Islamisten, Antisemiten und Faschisten, eine »wohlorganisierte islamistische Kadergruppe« (FAZ v. 11.6.2010). Tatsache ist, daß die IHH eine von weltweit 3000 Nichtregierungsorganisationen ist, die beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) beratenden Status haben. Dazu muß eine Organisation nachweisen, daß sie eine demokratisch angenommene Satzung hat, die Befugnis besitzt, für ihre Mitglieder zu sprechen (Satzung mit Vertretungsrecht), und sie muß angemessene Mechanismen in punkto Rechenschaftspflicht, demokratischen und transparenten Entscheidungsprozessen nachweisen. Die IHH steht auf keiner der berüchtigten Terrorlisten. Die Stiftung ist jüngeren Datums, mit dem Bosnien-Krieg entstanden, wo sie erste humanitäre und Entwicklungsprojekte durchführte. Nach Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit ist sie seitdem im Sudan, Somalia, Jemen, Pakistan, Irak, Niger und anderen Ländern mit ähnlichen Entwicklungsprojekten tätig, wie wir sie von Misereor, der evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Medico International oder dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) kennen. Seit der vollständigen Abriegelung des Gazastreifens durch Israel im Juli 2007 arbeitet die IHH auch in Gaza und sendet Hilfskonvois über Rafah. Daß sie dabei mit der Hamas kooperiert, ist selbstverständlich und nur noch bei den verbohrtesten Köpfen ein Stein des Anstoßes – schließlich fordert selbst Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in der BRD, öffentlich Gespräche mit der Hamas. »Nimmt man die Bilder und die Eindrücke aus dem IHH-Hauptquartier in Fatih zusammen«, so Michael Thumann in Die Zeit vom 1.6.2010, »ist hier beileibe kein radikalislamischer Verein als Subunternehmer von Hamas zu besichtigen. Es ist ein Hilfsverein und, ja, er wird von konservativen, gläubigen Muslimen getragen. Aber er ist offensichtlich unabhängig. IHH hat Kontakte zu Hamas – so wie türkische Behörden, wie die russische Regierung, wie europäische Abgeordnete auch.« Eine Verbindung zu Al-Qaida oder Dschihad haben weder Thumann noch irgend jemand von der FAZ feststellen können. Es handelt sich um bloße Verdächtigungen, die allein dem Zweck dienen, »Free Gaza« in Mißkredit zu bringen.
»Free Gaza« ist eine dezentral von Washington und London aus agierende Organisation, die bereits im Juli 2009 zwei Schiffe nach Gaza geschickt hatte, die »Dignity« und die »Spirit of Humanity«. Letztere wurde von der israelischen Armee in internationalen Gewässern aufgebracht und bis heute nicht an die Organisation zurückgegeben. Die türkische Hilfsorganisation IHH ist wie andere mit der »Free-Gaza«-Bewegung eine Koalition zur Durchführung der Fahrt der Flottille eingegangen. Gemeinsame Basis war stets und ist weiterhin der Aufruf an die Weltgemeinschaft zur gewaltfreien Beendigung der Blockade und die Hilfe für die Bevölkerung durch Auslieferung von Hilfsgütern. Die Verteilung soll durch Nichtregierungsorganisationen in Gaza vorgenommen werden. Gleichgültig, ob Christen, Muslims, Buddhisten oder Atheisten, es waren Menschen aus über 30 Staaten auf den Schiffen, die einigen wenigen gemeinsamen Grundprinzipien verpflichtet waren: weder parteipolitische Ziele noch Missionierung, absolute Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, Verzicht auf jegliche Waffen an Bord und Toleranz untereinander. Es gibt keine Anzeichen, daß diese Grundprinzipien nicht eingehalten wurden.
Illegale Gewalt
Die zweite Strategie zielt auf die völkerrechtliche Legitimierung des israelischen Angriffs. Ihr Grundtenor in Israel lautet Selbstverteidigung, da man sich mit Gaza im Krieg befinde. Simon Stein, Exbotschafter Israels in Deutschland, bemüht zur Rechtfertigung sogar die US-Blockade der sowjetischen Frachter, die 1962 mit Raketen nach Kuba unterwegs waren. Aber auch außerhalb Israels erheben sich Stimmen, die den israelischen Streitkräften ein Recht zur Seeblockade zugestehen wollen. Andere Stimmen beziehen sich auf das Handbuch von San Remo über das Recht in bewaffneten Konflikten zur See von 1994, in dem den kriegführenden Gegnern ein Recht zur Blockade zugesprochen wird. Voraussetzung für eine legitime Seeblockade ist also ein Krieg.
Wir haben gerade eine extensive Debatte über den Kriegsbegriff beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan hinter uns. Dabei haben sich Regierung und Parlament nur mühsam zu der Erkenntnis durchringen können, daß es sich in Afghanistan in der Tat um einen Krieg, völkerrechtlich um einen bewaffneten Konflikt handelt. Für die vollkommen anders geartete Situation in Gaza sollte doch klar sein, daß die dort leider üblichen gegenseitigen Gewaltmaßnahmen – vereinzelte Raketen auf die Grenzgebiete Israels und gezielte Tötungen durch Drohnen und Artillerie im Gazastreifen – nicht die Kriterien eines Krieges oder bewaffneten Konflikts erfüllen. Die Militärintervention der israelischen Streitkräfte im Dezember 2008 bis Januar 2009 war ein Krieg. Die Gewalt ist zwar nicht gestoppt, aber jetzt ist es ein Wirtschaftskrieg, den Israel gegen den Gazastreifen führt – eine Seeblockade außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer und der selbsterklärten militärischen Sperrzone ist völkerrechtlich nicht zu legitimieren.
Israel hatte bereits weit im Vorfeld durch Sabotage versucht, die Flottille zu stoppen. Beide Motorjachten, »Challenger I« und »II«, bekamen in der Nacht nach ihrem Auslaufen aus dem Hafen von Agios Nikolaos auf Kreta technische Probleme. Zunächst war es bei der »Challenger II« ein Schaden an einem Motorfilter, der behoben werden konnte. Danach fiel die Steuerung aus, so daß die Passagiere auf die »Mavi Marmara« übergesetzt werden mußten. Auch die »Challenger I« hatte Probleme mit der Steuerung und der Wasserpumpe. Die konnte aber noch Famagusta auf Zypern anlaufen, wo die Schäden soweit repariert wurden, daß sie ihre Fahrt fortsetzen und die anderen Schiffe an dem vereinbarten Treffpunkt erreichen konnte. Erst durch hiesige Zeitungsberichte (FAZ v. 2.6.2010) wurde unser Verdacht bestätigt, daß es sich um einen Sabotageakt der israelischen Marine gehandelt hatte. Ob das auch für den Maschinenschaden der »Rachel Corrie« gilt, ist ungeklärt.
Dem Angriff auf die »Mavi Marmara« gingen Funkkontakte zur israelischen Marine voraus, die aber die Schiffe nicht bewegen konnten, ihren Kurs zu ändern, da sie sich in internationalen Gewässern befanden. Seit Hugo Grotius (1583–1645), einem der Urväter des Völkerrechts, gilt dort der Grundsatz der »Freiheit der Meere«. Der Angriff mit Blendschockgranaten am 31. Mai um 4.20 Uhr am Morgen kam vollkommen überraschend ohne Vorwarnung. Ihm folgte unmittelbar der Angriff aus der Luft von Helikoptern aus. Es gäbe noch viel zu klären über Umstände und Ablauf dieses Angriffs, der zeitgleich, aber zum Glück ohne Tote oder schwerer Verletzte, gegen alle anderen fünf Schiffe geführt wurde. Eine unabhängige internationale Untersuchung ist deswegen unbedingt notwendig.
Kriegs- oder Friedensrecht?
Klar ist allerdings jetzt schon, daß dieser Angriff, die Besetzung der Schiffe, die Tötung von mindestens neun und Verletzung von über 20 Passagieren, die Fesselung aller Besatzungsmitglieder und Passagiere sowie Entführung in den Hafen von Aschdod ein schwerer Verstoß gegen geltendes Völkerrecht ist. Es war schlicht ein Akt der Piraterie. Nach Artikel 3 der »Römischen Konvention zur Unterdrückung rechtswidriger Akte gegen die Sicherheit der Seeschiffahrt« von 1988 ist jede Eroberung eines Schiffes oder Kontrolle mit Mitteln der Gewalt ein internationales Verbrechen. Artikel 3 war lediglich die Kodifizierung eines damals schon geltenden gewohnheitsrechtlichen Verbots der Piraterie, eine Reaktion auf die Kaperung des italienischen Kreuzfahrtschiffs »Achille Lauro« im Oktober 1985. Ein palästinensisches Kommando hatte das Schiff geentert und den behinderten jüdisch-amerikanischen Passagier Leo Klinghoffer getötet und über Bord geworfen. Damals ging zu Recht ein Schrei der Empörung um die Welt. Man kann nicht ein Schiff angreifen und sich dann auf Notwehr berufen, wenn sich die Besatzung und Passagiere wehren.
Die israelische Regierung selbst vertritt öffentlich den Standpunkt, daß Gaza nach dem Rückzug 2005 nicht mehr zu ihrem Besatzungsgebiet im Sinne des Kriegsvölkerrechts (Haager Konventionen von 1907) gehöre, sie also auch keine Hoheitsrechte in diesem Gebiet mehr habe. Sie hat damit auch nicht das Recht, Gaza vom Meer abzuschneiden und den Hafen für ausländische Schiffe zu sperren.
Ist also Kriegsrecht nicht anwendbar, so reduziert sich die Möglichkeit der israelischen Marine, Schiffe auf hoher See zu kontrollieren und zu durchsuchen, auf jene ausnahmsweisen Fälle, in denen ein begründeter Verdacht besteht, daß Schiff verfolge illegale Ziele und Aktivitäten, wie Schmuggel, Piraterie oder Menschenhandel. Die Güter unserer Flottille waren öffentlich verladen und durch die Hafenbehörden kontrolliert worden, es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Waffen geschmuggelt werden sollten.
Selbst wenn man den israelischen Streitkräften angesichts der immer wieder aufflammenden Gewalttätigkeiten ein Selbstverteidigungsrecht oder ein Kontrollrecht der Schiffe einräumen würde, war diese Art Kontrolle mit Waffengewalt, Toten und Verletzten vollkommen unverhältnismäßig und schon deshalb rechtswidrig. Das internationale Seerecht fordert, das solche Durchsuchungen mit der größten Zurückhaltung vorgenommen werden, denn es handelt sich für gewöhnlich um einen Eingriff in fremde Souveränitätsrechte.
Ist dieser Angriff auf die »Mavi Marmara« auch ohne umfangreiche Untersuchungen auf jeden Fall als rechtswidrig einzustufen, so hatten Besatzung und Passagiere jedes Recht, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Da ein Angriff auf ein Schiff wie ein Angriff auf das Territorium des Heimatstaates zu werten ist, hätte dieser Vorfall sogar zu einer dramatischen Konfrontation mit der Türkei führen können. Denn die Türkei hätte ihrem Schiff militärisch zu Hilfe eilen können. Was die Staaten vor Somalia als selbstverständliches Recht gegenüber den Piraten in Anspruch nehmen, gilt auch vor der Küste Israels und des Gazastreifens. Wir können froh sein, daß es dazu nicht gekommen ist.
Gaza – freies Territorium?
Die israelische Regierung betrachtet Gaza als hoheitsfreies Territorium, nicht als Besatzungsgebiet, was es nach dem Rückzug der israelischen Siedler und Truppen 2005 für kurze Zeit war. In der Tat ist Gaza kein Staat, es ist juristisch kaum zu definieren. Sicher aber ist, daß es keinem der Nachbarstaaten erlaubt ist, ob Ägypten oder Israel, Hoheitsrechte über Gaza auszuüben wie das Sperren des Hafens oder das Verbot der Fischerei. Jeder Staat darf seine Grenzen schließen, aber nicht in der Weise, daß der Nachbar faktisch jeder Bewegungsfreiheit beraubt und eingeschnürt wird, wie es Israel mit Gaza praktiziert. Tatsächlich ist der Gazastreifen jedoch spätestens seit 2007 wieder ein besetztes Land, was Israel nach den Haager Konventionen zur weitgehenden Versorgung der Bevölkerung verpflichtet. Doch Tel Aviv kümmert sich nicht darum, im Gegenteil. Die Blockade trifft das ganze Volk, ihre Auswirkungen, das Elend, die offenen Zerstörungen und die Vernichtung zahlreicher Lebensgrundlagen sind allgemein bekannt.
Wie man es auch dreht oder wendet, ob wir die israelische Position akzeptieren, daß Gaza ein hoheitsfreies Territorium ist und damit Friedensrecht gilt, oder Gaza erneut besetzt und sich erneut im Krieg mit Israel befindet und deshalb Kriegsvölkerrecht anzuwenden ist: Die Blockade ist in jedem Fall rechtswidrig. Sie wirkt wie eine Kollektivbestrafung, die nach internationalem Recht verboten ist. Ja, es wäre zu prüfen, ob sie nicht den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt, wie es in Artikel 7 des Römischen Statuts von 1998 als Handlung, »die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs« definiert wird. Dieser Vorwurf trifft nicht allein Israel, sondern die USA und die EU-Staaten gleichermaßen, da sie in voller Kenntnis des Elends und der Zerstörungen diese Blockade unterstützen.
Viereinhalb Milliarden US-Dollar sind vor einem Jahr auf der Staatenkonferenz in Scharm El Scheich für den Wiederaufbau des Gazastreifens zur Verfügung gestellt worden. Nicht einmal die Zinsen konnten für Baumaterialien verwendet werden, weil letztere die Checkpoints Israels nicht passieren können. Die USA haben erneut 400 Millionen Dollar für Gaza versprochen. Es sind bislang alles nur symbolische und leider nutzlose Versprechen, da die Grenzen weiterhin gesperrt sind. Es gibt nur einen Weg, Gaza aus dem Elend zu befreien: die restlose Aufhebung der Blockade. Diesem Ziel weiß sich »Free Gaza« auch weiter verpflichtet.
Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht; er war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von IPPNW. Er hat den Überfall der israelischen Marine auf die Solidaritätsflottille des Free-Gaza-Movements an Bord eines der Schiffe miterlebt.
Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2010/06-16/022.php
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