- Anmerkungen zum Verfassungsschutz -
Die Erkenntnisse des Polyphem
Donnerstag, 24. Mai 2012 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
von Martin Kutscha
I. Die stille Beerdigung des Trennungsgebots
Im Oktober 2011 schien die Welt des Verfassungsschutzes noch in Ordnung zu sein. Von den Medien kaum zur Kenntnis genommen, beriet der Innenausschuss des Deutschen Bundestages eine Novelle zum Bundesverfassungsschutzgesetz. Im Wesentlichen, so ließen die Regierungsparteien verlauten, ginge es dabei um die Umsetzung der Ergebnisse einer Evaluierung der im Gefolge des 11. Septembers 2001 erlassenen Terrorismusbekämpfungsgesetze (Bundesregierung 2011). Die meisten der zur Sitzung des Innenausschusses am 17. Oktober geladenen Sachverständigen verliehen zwar einem gewissen Unbehagen an der Art und Weise der Evaluation Ausdruck, fanden am Gesetzentwurf der Bundesregierung allerdings nur wenig auszusetzen. Nur drei von ihnen, nämlich der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar, der Freiburger Staatsrechtler Ralf Poscher sowie der Verfasser dieses Beitrages übten Kritik daran, dass dem Verfassungsschutz durch das Gesetz nahezu beiläufig einige neue Kompetenzen eingeräumt werden.
Blenden wir zurück: Schon durch die Terrorismusbekämpfungsgesetze aus den Jahren 2002 und 2007 wurde dem Verfassungsschutz gestattet, bei Luftfahrt- und Telekommunikationsunternehmen sowie bei Kreditinstituten Auskünfte über die Daten bestimmter Zielpersonen einzuholen. Durch das neue Gesetz wird nun diese Auskunftsbefugnis auf Reservierungssysteme für Flüge sowie auf alle Kontostammdaten ausgedehnt. Die entscheidende Neuerung ist indessen in § 8 b Abs. 6 des inzwischen novellierten Bundesverfassungsschutzgesetzes enthalten. Danach sind die genannten Unternehmen „verpflichtet, die Auskunft unverzüglich, vollständig, richtig“ sowie in einem vom Bundesinnenministerium bestimmten elektronischen Dateiformat zu erteilen.
Mit der gesetzlichen Verankerung einer solchen bindenden Verpflichtung bestimmter Unternehmen zur detaillierten Auskunft über Kundendaten wird dem Verfassungsschutz aber genau das zugestanden, was ihm nach § 8 Abs. 3 desselben Gesetzes gerade verwehrt sein soll, nämlich die Ausübung von „polizeiliche(n) Befugnisse(n) oder Weisungsbefugnisse(n).“
Dieser bisher geltende Ausschluss von Exekutivbefugnissen für den Inlandsgeheimdienst Deutschlands verdankt sich keineswegs einer originären rechtsstaatlichen Sensibilität des deutschen Gesetzgebers, sondern geht zurück auf den sog. „Polizeibrief“ der Alliierten Militärgouverneure an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates vom 14. April 1949, also kurz vor der Verabschiedung des Grundgesetzes. Dieses Schreiben gestattete der künftigen Bundesregierung u. a. „eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnisse haben.“ (Roggan/Kutscha, 2006: 81). Dieser Ausschluss von polizeilichen Befugnissen sowie das Verbot, die neue Bundesbehörde einer polizeilichen Dienststelle anzugliedern, wurde dann zwar nicht im Grundgesetz, wohl aber im 1950 verabschiedeten Bundesverfassungsschutzgesetz verankert. Hintergrund dieses „Trennungsgebots“ für Polizei und Verfassungsschutz waren bittere Erfahrungen der Vergangenheit. So äußerte z. B. der Abgeordnete Hans-Joachim von Merkatz von der (an der damaligen Regierungskoalition unter Adenauer beteiligten) Deutschen Partei damals im Bundestag: „Kontrollbefugnisse und polizeiliche Exekutivbefugnisse hat dieses Amt nicht. Würde es diese Befugnisse bekommen, dann würde ein solches Amt sehr bald den selben Charakter erhalten, wie ihn die Geheime Staatspolizei gehabt hat oder die Staatspolizeien anderer Länder haben; ein Charakter, von dem Ortega y Gasset einstmals im ‚Aufstand der Massen’ gesagt hat, sie werden dann ihre Ordnung, nämlich ihre polizeiliche Ordnung, dem ganzen Staate aufprägen…“ (Plenarprotokoll des Bundestages I/2393).
Faktisch ist das Trennungsgebot inzwischen weitgehend ausgehöhlt durch vielerlei Praktiken der informationellen Vernetzung zwischen Polizeien und Verfassungsschutzbehörden u. a. im Rahmen des „Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums“ (Gustav Heinemann-Initiative & Humanistische Union 2009: 149). Insoweit ist die Begründung verbindlicher und im Übrigen schrankenloser Auskunftspflichten gegenüber dem Verfassungsschutz durch die Gesetzesnovelle vom Herbst 2011nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Befreiung von einer lästigen rechtsstaatlichen Fessel für die „effiziente Aufgabenerfüllung der Dienste“, der überdies selbst von kritischen Medien kaum wahrgenommen wurde.
II. Unerklärliche Ermittlungspannen?
Schlagartig vorbei war es mit der Ruhe um die Verfassungsschutzämter, als die jahrelangen Aktivitäten der Neonazi-Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ am 4. November 2011 durch den Tod zweier Hauptprotagonisten ihr Ende fanden. Wie konnte es sein, dass diese Terrorzelle im Verlauf von über 13 Jahren 10 Morde, 14 Banküberfälle und mindestens einen Sprengstoffanschlag begehen konnte – offenbar unbehelligt von den zuständigen „Sicherheitsbehörden“? Immerhin ist die Neonaziszene seit Jahren durchsetzt mit V-Leuten der Verfassungsschutzämter, im Westen wie im Osten (Gössner 2003). Der ehemalige Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, räumte ein, dass allein in seiner Amtszeit, nämlich in den Jahren 1994 bis 2000, 3 Mill. DM für V-Leute in dieser Szene ausgegeben wurden (Speit/Wellsow 2012: 52). Im Jahr 2000 übergaben Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes dem bekannten Neonazi-Anführer Tino Brandt, der zugleich als V-Mann diente, 2000 DM. Diese sollten der „Zwickauer Terrorgruppe“ zwecks Anschaffung neuer Pässe ausgehändigt werden – angeblich, um auf diese Weise auf die Spur des auch zuvor schon bekannten Trios Mundlos/Böhnhardt/Tschäpe zu gelangen (Berliner Zeitung v. 19. 12. 2011). Aber warum blockierte dann das Thüringer Innenministerium zwischen den Jahren 2000 und 2002 die von der Polizei beabsichtigte Festnahme der drei, wie die Berliner Zeitung v. 8. 12. 2011 meldete? Sollte auf diese Weise eine bisher unbekannte V-Person des Verfassungsschutzes dem polizeilichen Zugriff entzogen werden oder hat sich der Verfassungsschutz aus anderen Gründen als Schutzengel für die Neonazis betätigt? Darüber lässt sich bisher nur spekulieren, weil die beteiligten Ämter an einer lückenlosen Aufklärung offenbar kaum interessiert sind und deshalb auch die inzwischen eingesetzten parlamentarischen Untersuchungsausschüsse häufig im Dunklen tappen werden.
„Der Verdacht der Kumpanei“ lautet die treffende Überschrift des Leitartikels der Berliner Zeitung v. 23. 12. 2011. Dessen Autor Christian Bommarius wundert sich darin, dass dem Verfassungsschutz bei der Aufklärung einer Mordserie mit neun ausländischen Opfern rein gar nichts gelungen sei. „Er hat nichts gehört und nichts gesehen? Dann ist er überflüssig. Er hat nichts hören und nichts sehen wollen? Dann ist er eine Gefahr für die Verfassung.“
Damit sind wir beim Kern des Problems: Der Verfassungsschutz ist in der Tat einäugig, und zwar von Anfang an. Im Gegensatz zu dem antiken Riesen Polyphem, der Odysseus und seinen Gefährten auf ihrer langen Irrfahrt übel mitspielte, sitzt das Auge des Verfassungsschutzes aber nicht mitten auf der Stirn. Der neue Polyphem späht nur nach links, wo er jede kleinste Bewegung wahrzunehmen versucht, um dann mit amtlicher Autorität seine lauten Warnrufe erschallen zu lassen, was für die Betroffenen häufig einschneidende Folgen zeitigt. So wurde nach der Einführung der „Regelanfrage“ beim Verfassungsschutz 1973 – von der allein bis Ende 1978 etwa 1, 2 Mill. Mal Gebrauch gemacht wurde (Preis 1982: 7) – zahlreichen jungen Menschen wegen „Zweifeln an der Verfassungstreue“ der Zugang zu Berufen im öffentlichen Dienst verwehrt. Anlass für solche „Zweifel“ waren häufig das Engagement in angeblich „verfassungsfeindlichen“ linken Organisationen, aber auch vielfältige andere Formen politischer Betätigung (Kutscha 1979).
Aufschlussreich sind auch die Darstellungen in den Urteilen des Verwaltungsgerichts Köln vom 3. Februar 2011 (20 K 2331/08) sowie des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 19. Oktober 2011 (22 K 4905/08), in denen die Rechtswidrigkeit der langjährigen Überwachung des Rechtsanwalts und Publizisten Rolf Gössner durch das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie das entsprechende Landesamt in Nordrhein-Westfalen festgestellt wurde. Allein beim Bundesamt umfassen die „Erkenntnisse“ über das Treiben Gössners über 2000 Aktenseiten und erfassen einen Zeitraum von vier Jahrzehnten. Akribisch gesammelt wurden zahlreiche Informationen von der Mitgliedschaft beim SHB während seiner Studentenzeit zu Beginn der siebziger Jahre bis hin zu seinen Auftritten als Referent zu Themen wie „Innere Sicherheit“, „Abbau von Menschenrechten“ oder „V-Leute in Neonaziszenen“ sowie die Beobachtung eines Prozesses vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim im Auftrag der Internationalen Liga für Menschenrechte. „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ vermochten die beiden Verwaltungsgerichte in allen diesen Aktivitäten nicht zu erkennen – mit guten Gründen, handelt es sich dabei doch um nichts anderes als die Inanspruchnahme von Grundrechten zum Schutz freier demokratischer Willensbildung. Ein Instrument zur Ausforschung und Diskreditierung politisch Oppositioneller soll der Verfassungsschutz nach dem Wortlaut seiner rechtlichen Grundlagen aber gerade nicht sein.
III. Anspruch und Wirklichkeit
Die zentrale Regelung hierzu findet sich in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz. Danach darf der Bund „Zentralstellen“ u. a. „zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes“ einrichten. Welche Befugnisse diese Zentralstelle hierfür haben soll, ist nicht im Grundgesetz geregelt, sondern in den §§ 8 ff. des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Dieser Befugniskatalog wurde im Laufe der Jahre schrittweise ausgeweitet, zuletzt durch das (oben unter I erläuterte) Änderungsgesetz vom 7. Dezember 2011.
In § 3 Abs. 1 Nr. 1 ist die Hauptaufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bestimmt, nämlich die Sammlung und Auswertung von Informationen über „Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben.“ Von einer „Bekämpfung des Links- und des Rechtextremismus“ ist in diesem Gesetz hingegen nirgendwo die Rede. Gleichwohl ist dies der Hauptgegenstand der auf Bundes- und Landesebene regelmäßig erscheinenden „Verfassungsschutzberichte“ (z. B. Bundesministerium des Innern 2011). Diese mit amtlicher Autorität kostenlos verbreiteten Texte erwecken den Eindruck einer objektiven Berichterstattung über Gefährdungen unserer Verfassungsordnung. Sie beinhalten indessen eine Art hoheitlicher Verrufserklärung, mit der „extremistische“ Organisationen und Personen an den Pranger gestellt werden. Was als angebliche Aufklärung der Öffentlichkeit daherkommt, dient in Wahrheit als ein aus Steuermitteln finanziertes „Instrument zur Bekämpfung missliebiger Parteien“ (Müller-Heidelberg 2001: 232). Politisch durchaus gewollt und keineswegs „ballaballa“, wie der Linken-Politiker Gysi meint (Berliner Zeitung v. 24. 1. 2012), ist auch die Überwachung von Bundestagsabgeordneten.
Der dabei als Rechtfertigungsformel benutzte und auch in Medien und Wissenschaft verbreitete unscharfe Begriff des „Extremismus“ erlaubt es, ihrem Wesen nach höchst unterschiedliche politische Aktivitäten mit ein und derselben Negativformel aus dem öffentlichen Meinungsbildungsprozess auszugrenzen. Wer ein „Extremist“ ist, wird nicht nach objektiven rechtlichen Kriterien bestimmt, sondern nach der Distanz von der politischen „Mitte“, die jeweils von der Politik der Regierenden definiert wird. Die „Extreme“ erscheinen dann gleichermaßen als Bedrohung der Demokratie, „während die Mitte als Hort und Schutz derselben imaginiert wird.“ (Decker u. a. 2010: 12).
In der Praxis war der Verfassungsschutz von Anbeginn ein Instrument ausschließlich gegen die politische Linke. Als Kind des Kalten Krieges wurde ihm ein entsprechendes Feindbild quasi schon in die Wiege gelegt. Dafür verantwortlich war nicht zuletzt das Personal, das beim Aufbau des Bundesamtes zu Beginn der fünfziger Jahre eingestellt wurde. Darunter befanden sich nicht wenige „erfahrene Experten“, die sich schon in der Nazizeit bei der Überwachung und Verfolgung des Staatsfeindes „bewährt“ hatten (Günther u. a. 1981: 68). Zwar wurde mit der Leitung des Amtes der unbelastete Otto John betraut, aber schon sein Stellvertreter, Oberst a. D. Albert Radke, hatte sich seine Meriten in der Spionageorganisation „Fremde Heere Ost“ des Nazigenerals Gehlen verdient. Unter den Bediensteten der neuen Behörde fanden sich des weiteren Männer wie z. B. der Regierungsrat Wenger, der sich in der Nazizeit als SS-Hauptsturmführer in der „Leibstandarte Adolf Hitler“ hervorgetan hatte.
Der durch Personen dieses Schlages geprägte Geist des Amtes lebte offenbar auch nach deren altersbedingtem Ausscheiden weiter und hinterließ seine Spuren bis heute. Aufschlussreich sind die freimütigen Bekundungen des früheren NPD-Landesvorsitzenden von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Frenz, der dem dortigen Verfassungsschutz bis zu seiner Enttarnung 2002 über drei Jahrzehnte als V-Mann zu Diensten war: Seine Verbindungsführer vom Amt, so Frenz, seien alle Brüder im Geiste gewesen. Bis auf einen, „der auschwitzgläubig blieb“, habe er niemanden kennen gelernt, „der das politische System der Republik bejahte und es für in Ordnung befand.“ Die meisten von ihnen hätten sogar rechte Parteien gewählt (nach Berliner Zeitung v. 18. 11. 2011). So ist man sich denn auch im Kampf gegen „linke Zecken“ einig, und das in der deutschen Geschichte so verhängnisvolle Feindbild wird perpetuiert.
Von einer staatlichen Behörde mit dem vertrauenerweckenden Namen „Verfassungsschutz“ würde man eigentlich die penible Einhaltung der Gesetze erwarten. Zahlreiche Skandale der Vergangenheit lassen allerdings den gegenteiligen Schluss zu. An dieser Stelle seien nur der „Fall Schmücker“ sowie das „Celler Loch“ in Erinnerung gerufen: Der Student Ulrich Schmücker wurde am 4. Juni 1974 im Berliner Grunewald ermordet, vermutlich als Bestrafung für seine Kontakte zum Verfassungsschutz. Bei den Gerichtsverhandlungen gegen die mutmaßlichen Täter aus dem Umfeld der Terrorgruppe „Bewegung 2. Juni“ stellte sich heraus, dass zwei V-Leute des Berliner Verfassungsschutzes vor der Tat wussten, dass Schmücker sich in Lebensgefahr befand. Gleichwohl wurde Schmücker nicht vom Verfassungsschutz gewarnt oder beschützt, sondern als Lockvogel eingesetzt, wie eine Strafkammer des Landgerichts Berlin in ihrem Urteil vom 28. Januar 1991 feststellte (Velten 1995: 26 ff.). Nachdem das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz eine gerichtliche Aufklärung der Tat jahrelang blockiert hatte, wurde das Strafverfahren schließlich eingestellt. Das Verschweigen wichtiger Informationen über Verbrechensbeteiligte, die dem Verfassungsschutz vermutlich als V-Leute zu Diensten waren, scheint überdies kein Einzelfall zu sein: Bis heute ungeklärt ist die Rolle von Verena Becker bei der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback im Jahre 1977 (Berliner Zeitung v. 13. 10. 2010).
Im Juli 1978 sprengten Beamte des Verfassungsschutzes und des Bundesgrenzschutzes in einem „verdeckten Einsatz“ ein etwa anderthalb Meter großes Loch in der Mauer der Celler Haftanstalt, in welcher der wegen terroristischer Straftaten verurteilte Sigurd Debus einsaß. Ein Bediensteter der Haftanstalt geriet dabei in Lebensgefahr. Die Polizei wusste nichts von den wahren Urhebern der Sprengaktion und nahm an, dass Gesinnungsgenossen versucht hätten, Debus zu befreien. Tatsächlich war die Aktion inszeniert worden, um V-Leuten des niedersächsischen Verfassungsschutzes zu einer Legende zu verhelfen, mit deren Hilfe sie Eingang in bestimmte „linksextreme“ Kreise finden sollten (Velten 1995: 45).
Schon aus grundsätzlicher Sicht ist es zweifelhaft, ob die Verfassungsschutzämter den mit ihrem Namen verbundenen hohen Anspruch überhaupt erfüllen können. Sie sind schließlich Teil der staatlichen Exekutive, auf deren Einhegung die Regeln einer demokratischen Verfassung gerade abzielen (Kutscha 2007: 48). „Die große Errungenschaft des Verfassungsstaates besteht darin, die staatliche Hoheitsgewalt durch eine Reihe von rechtlichen und institutionellen Sicherungsmechanismen eingeschränkt und gezähmt zu haben, um den für den Bürger notwendigen Freiheitsraum zu gewährleisten.“ (Ossenbühl 2011: 1357). Insbesondere das Grundgesetz hat als Reaktion auf die Nazi-Tyrannei die Grundrechte des Einzelnen an seinen Anfang gestellt und damit explizite Schranken für Eingriffe der Staatsgewalt in die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen errichtet. „Schutz der Verfassung“ bedeutet demnach vor allem, über die Einhaltung dieser verfassungsmäßigen Freiheitsgewährleistungen beim Handeln der staatlichen Exekutive zu wachen. Dies aber leisten die Verfassungsschutzämter gerade nicht – im Gegenteil: Ihre Überwachungspraktiken greifen tief in die Grundrechte ein, die sowohl den Schutz der Privatsphäre als auch eine freie und unkontrollierte politische Betätigung als Voraussetzung demokratischer Willensbildung sichern sollen. Eine effektive Kontrolle der Ämter findet überdies kaum statt, auch wenn die Existenz spezieller hierfür eingerichteter parlamentarischer Gremien dies suggeriert. Diese Kontrollinstanzen sind „nicht nur blinde Wächter; sie sind auch Wächter ohne Schwert,“ konstatierte der Bielefelder Staatsrechtler Christoph Gusy richtig (Gusy 2008: 39).
Nach der Aufdeckung der „Zwickauer Terrorzelle“ reagierten die Innenpolitiker der Regierungsparteien wie üblich. Statt zu untersuchen, in welchem Maße die Neonaziszene mit Teilen von „Sicherheitsbehörden“ verquickt ist, wird die weitere informationelle und organisatorische Aufrüstung des Apparates gefordert. Durch eine Zentralisierung der Verfassungsschutzbehörden sowie durch eine neue „Verbunddatei“ sollen die Mängel der Ermittlungsarbeit beseitigt werden. Dabei fehlte es keineswegs an Informationen über die Mitglieder der Terrorgruppe. „Man kannte ihre Wohnungen, ihre Freunde, hatte Fotos, Handschriftenproben, DNA-Spuren, kurzum alles, was das Kriminalistenherz begehrt“, schrieb die FAZ am 21. 11. 2011. Eine mangelnde Datengrundlage war also keineswegs verantwortlich für die „Ermittlungspannen“. Eine wichtige Ursache hierfür dürfte vielmehr die Verquickung von Teilen des Verfassungsschutzes mit der Neonaziszene darstellen. Zur Aufklärung dieser Szene sind V-Leute jedenfalls völlig ungeeignet – dies sollte eine wichtige Lehre aus dem Skandal um die neonazistische Terrorzelle sein.
IV. NPD-Verbot?
Wie immer, wenn ein rassistisch bzw. neonazistisch motiviertes Gewaltverbrechen die Öffentlichkeit beunruhigt, wird auch wieder die Forderung nach der Neuauflage eines Verbotsverfahrens gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Das Pro und Contra eines NPD-Verbots ist bereits anlässlich des im Jahre 2003 wegen der zahlreichen V-Leute in den Führungsebenen der Partei gescheiterten Verfahrens ausführlich debattiert worden (vgl. nur Rogalla 2001 einerseits und Narr 2001 andererseits), deswegen mögen hier einige Stichworte zu den wichtigsten Argumentationslinien genügen:
Für ein Verbot spricht ohne Zweifel, dass der NPD damit Wahlen und Parlamente als Plattformen zur Verbreitung ihrer nazistischen und rassistischen Ideologie und damit auch die Finanzierung ihrer Aktivitäten aus Steuermitteln nicht mehr zur Verfügung stünden (Edathy 2010: 34). Damit ließe sich zwar der politische Einfluss dieser Partei beschränken, jedoch würden damit keineswegs entsprechende autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung beseitigt werden können (Busch 2012: 58) – Gesinnung lässt sich nicht verbieten. Wie u. a. eine im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung 2010 durchgeführte sozialwissenschaftliche Erhebung belegt, haben – nicht zuletzt im Gefolge der anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise und der dadurch ausgelösten sozialen Unsicherheit – dezidiert antidemokratische und rassistische Einstellungen deutlich zugenommen (Decker u. a. 2010: 139). Solche Einstellungen finden sich mithin nicht nur am „rechten Rand“ der Gesellschaft, sondern bis weit hinein in deren Mitte.
Diese Feststellung spricht allerdings auch gegen die These, die „Bekämpfung des Rechtsextremismus“ müsse der Zivilgesellschaft überlassen werden, nicht aber dem Staat (so z. B. Roland Koch in FAZ v. 26. 10. 2000). Bei dieser Argumentation „wird nicht von der politischen Kultur ausgegangen, wie sie sich tatsächlich darstellt, sondern vom Bild einer politischen Kultur, wie sie normativ gefordert wird. In diesem Bild spielt der Staat für die Gewährleistung des öffentlichen Friedens keine Rolle mehr. So wird die ganze Problematik auf die Ebene moralischer Forderungen verschoben.“ (Henkel/Lembcke 2001: 25 f.). Mit bloßen moralischen Appellen ist es eben nicht getan, sondern es geht um wirksame Maßnahmen zum Schutz von Menschen, die allein aus Gründen ihrer ethnischen Herkunft oder politischen Anschauung mancherorts um Leib und Leben fürchten müssen. Wie die Morde der neonazistischen Terrorzelle zum wiederholten Mal gezeigt haben, kommen die zuständigen staatlichen Stellen dieser Schutzpflicht nur sehr ungenügend nach. Ein NPD-Verbot darf insoweit keine Alibi-Veranstaltung mit bloßem Symbolcharakter sein, sondern kann nur als Bestandteil eines umfassenden Gesamtkonzepts gegen Neonazismus und Rassismus positive Wirkung entfalten (Cremet 2000: 1438).
Im Übrigen sind die Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht durchaus unsicher: Als Verbotsvoraussetzung verlangt Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, dass die betreffende Partei „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger“ darauf ausgeht, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen.“ Für diese Annahme aber reichen fremdenfeindliche Sprüche und demagogische Kritik an der Regierungspolitik noch längst nicht aus. Der Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ lässt sich nämlich keineswegs mit dem politischen Status quo gleichsetzen, sondern meint die grundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung (Bundesverfassungsgericht 1952: 12 f.). Es müsste also anhand der Programmatik der NPD oder des „Verhaltens ihrer Anhänger“ nachgewiesen werden, dass diese Partei die elementaren Verfassungsprinzipien beeinträchtigen oder beseitigen will. Dabei stellt sich auch die Frage, in welchem Maße Äußerungen bzw. Straftaten von „Anhängern“ der Partei selbst zugerechnet werden können – alles in allem keine leichte Aufgabe.
Fraglich ist schon, ob die Innenminister bereit sein werden, die zahlreichen V-Leute in der NPD „abzuschalten“, um auf diese Weise ein rechtstaatlich einwandfreies und erfolgreiches Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Richtig schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung v. 21. 11. 2011: „Das V-Leute-Wesen, das ein Unwesen geworden ist, wiegt den Staat im Glauben, alles im Griff zu haben.“ Es suggeriert darüber hinaus, dass der angeblich die Verfassung schützende Polyphem aufmerksam und ganz „neutral“ nach beiden Seiten schaut.
Versteckt im langen Fell von Widdern, gelang dem klugen Odysseus und seinen Gefährten damals die Flucht, nachdem sie den Riesen in seiner Höhle geblendet hatten. Diesem blieb nur, dem abfahrenden Schiff gewaltige Steinbrocken hinterher zu schleudern und die Rache seines Vaters Poseidon an Odysseus herabzuschwören. Der Polyphem von heute hat zwar keinen göttlichen Vater, wohl aber mächtige Beschützer, die vermutlich dafür sorgen werden, dass er trotz seiner Einäugigkeit nicht aufs Altenteil geschickt wird.
Literatur
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Decker, Oliver/Weißmann, Marliese/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar 2010: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Berlin.
Edathy, Sebastian 2010: Für ein NPD-Verbot, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 55. Jg., H. 1, S. 32-34.
Henkel, Michael/Lembcke, Oliver 2001: Wie sinnvoll ist ein Verbot der NPD? In: Kritische Justiz, 34. Jg., H. 1, S. 14-28.
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Velten, Petra 1995: Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung, Berlin.
Personalia:
Kutscha, Martin, geb. 1948, Dr. iur., Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Mitglied im Beirat der Humanistischen Union, zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere zu Verfassungsfragen, Grundrechten und Datenschutz, u. a. des Lehrbuchs „Verfassungsrecht konkret. Die Grundrechte“, 2. Aufl. Berliner Wissenschafts-Verlag 2011 (gemeinsam mit A. Fisahn).
erschienen in vorgänge Nr. 197
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion