Arthur Stadthagens Publikationen zur Rechts- und Sozialpolitik der Sozialdemokratie von 1899/1900
Montag, 11. April 2011 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
Schwerpunktbeitrag „Bildung und Wissenschaft“ vom 8. Februar 2011
von Holger Czitrich-Stahl
In den Jahren 1899 und 1900 verfasste Arthur Stadthagen drei juristische bzw. sozialpolitische und sozialrechtliche Beiträge in der „Neuen Zeit“ Karl Kautskys, die im Folgenden näher vorgestellt werden sollen. Ferner knüpfte er an seine erfolgreiche schriftstellerische Tätigkeit als Rechtsberater für die „kleinen Leute“ an, die er mit dem „Arbeiterrecht“ begonnen hatte. Angelehnt an das juristische Jahrhundertwerk des BGB gestaltete Stadthagen eine weitere Handreichung, den „Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch“, welcher im Jahr des Inkrafttretens des BGB, also 1900, erschien.
Gegen Ausnahmegesetze! Stadthagens Publizistik über die „Zuchthausvorlage“, über Ausnahmerechte gegen ländliche Arbeiter und über die „Instleute“ (1899/1900)
Dass Eduard Bernsteins Position von der Möglichkeit eines friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus, die er von London aus konzipierte, sich kaum mit der realen Lage im Deutschen Reich zur Deckung bringen ließ, verdeutlichen die Auseinandersetzungen um die sogenannte „Zuchthausvorlage“, die die Reichsregierung am 2. Juni 1899 in den Reichstag einbrachte. Hinter dieser martialischen Charakteristik verbarg sich der Gesetzesentwurf „Zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“. Er sah im Falle von Streiks vor, die Behinderung arbeitswilliger Streikbrecher durch die Streikenden mit Gefängnisstrafen oder gar mit dem Zuchthaus zu sanktionieren. Gleiches galt für alle Versuche zur Einbeziehung in Streikaktionen gegen den Willen der Betroffenen. Dieser erneute rigide Versuch der Eindämmung sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Betätigung rief einmal mehr die Arbeiterbewegung zu Protestaktionen auf den Plan. Schon im September 1898 protestierten die Niederbarnimer Sozialdemokraten gegen die langfristig vorbereitete „Zuchthausvorlage“ auf einer Versammlung des Arbeiter-Bildungsvereins in Friedrichsberg, der eine Protestresolution verabschiedete.[1]
Stadthagen nahm die Gelegenheit wahr, die „Zuchthausvorlage“ in Karl Kautskys Zeitschrift „Die Neue Zeit“ zu besprechen.[2] Darin beschäftigte er sich mit der juristischen Tragweite dieses Entwurfs.
Er leitete seine Ausführungen mit der Bemerkung ein, dass ein gesetzlicher Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses prinzipiell dringend erforderlich sei, im Kapitalismus jedoch nicht gegeben ist. Der Grund dafür sei, dass die Freiheit des Arbeiters, seine Arbeitskraft als Ware einem Arbeitgeber gegen Lohn zu verkaufen, nur eine scheinbare Freiheit ist, da sie der Freiheit des Arbeitsgebers nur äußerlich ebenbürtig sei: „Diese rechtliche Ebenbürtigkeit ist eine nur scheinbare Freiheit, soweit der Arbeiter wirthschaftlich unselbständig ist, seine Freiheit also lediglich in der Freiheit besteht: zu wählen, ob er seine einzige Waare, seine Arbeitskraft, unter ihrem Werthe an Andere veräußern oder ob er hungern will.“[3]
Aus dieser Scheinfreiheit, die dem Kapitalverhältnis entwuchs, folgerte er die Notwendigkeit eines uneingeschränkten und geschützten Koalitionsrechts der Arbeiter. Verletze man dieses Koalitionsrecht oder verwehre man es der Arbeiterklasse, so „macht man die Waare „Arbeitskraft“ zu einer mißhandelten Waare. Ausbau und Schutz des Koalitionsrechts und der Arbeiterschutzbestimmungen sind Lebensbedingungen für die kapitalistische Produktionsweise und für jede auf Arbeit Freier beruhende Gesellschaftsordnung und Rechtsgemeinschaft.“[4]
Auf insgesamt elf Seiten befasste sich Stadthagen nun systematisch mit den elf Paragraphen des Gesetzesentwurfs und beschrieb deren Auswirkungen auf die Rechtslage der Arbeiter. Vorangestellt wurden grundsätzliche Bemerkungen über die gesellschaftliche Funktion der Koalitionsfreiheit für die Arbeiter.
Zu Beginn seiner Ausführungen bezeichnete Stadthagen den im Titel des Gesetzesentwurfes als Rechtsgegenstand zum Ausdruck kommenden Sachverhalt als irreführend: „Der Titel „Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses“ berechtigt daher zu der Annahme, daß sein Inhalt Arbeiterschutzbestimmungen und volles Koalitionsrecht für den gewerblichen Arbeiter endlich erhalte. Der Titel täuscht aber über den Inhalt. Der Inhalt enthält an Stelle zwingender Arbeiterschutzbestimmungen den Versuch, Arbeiterschutzbestrebungen durch Strafmittel zu unterbinden, an Stelle einer Erweiterung und eines Schutzes des Koalitionsrechts die Androhung hoher Strafen für die Ausübung des Koalitionsrechts und des Vereinigungsrechts der Arbeiter.“ Statt dieses irreführenden Titels schlug Stadthagen stattdessen vor, den Text „Entwurf eines Gesetzes für staatliche Zwangsmittel zur Hinderung der Arbeiterklasse in ihrem Streben nach Besserung ihrer Lebenslage und für Degradirung der Arbeiter zu Wesen, die lediglich als Arbeitsmaschine der Kapitalisten Dienste zu verrichten haben“ zu nennen.[5] In seinen weiteren theoretischen Erwägungen qualifiziert er das im geltenden Recht als gleichrangig für Arbeiter und Unternehmer kommentierte Koalitionsrecht als völlig antagonistisch. Das Koalitionsrecht für Arbeiter sei Teil ihrer persönlichen Freiheit als Arbeiter im Kapitalismus und ermögliche erst seine annähernde Gleichstellung mit anderen Warenverkäufern, „Koalitionsbeschränkungen gefährden bei der Untrennbarkeit der Waare Arbeitskraft von der Person ihres Eigenthümers die persönliche Freiheit des sozial abhängigen Arbeiters. Das Koalitionsrecht der Arbeiter ist ein Kampfmittel im Kampfe gegen die ökonomische Hörigkeit der Arbeiter.“[6] Das Koalitionsrecht der Unternehmer hingegen wurde von Stadthagen verworfen, es sei lediglich ein „Angriffsmittel auf das Koalitionsrecht der Arbeiter“, „ein Mittel, um die Antheilnahme der Arbeiter an der Kultur…zu senken.“ Er schlussfolgerte: „Ist ein Recht schutzbedüftig, so ist deshalb doch nicht auch das Recht schutzbedürftig, dies Recht anzugreifen. Das Eigenthumsrecht ist geschützt – wem fällt es ein, „um Licht und Schatten gleich zu vertheilen“, nun auch das Recht des Diebes zum Angriff des Eigenthums schützen zu wollen?“[7]
Dieses Zitat weist explizit auf Stadthagens Rechtsverständnis bezüglich des Eigentums des Arbeiters an seiner Arbeitskraft hin, das ein schützenswertes Rechtsgut und somit als eine zentrale Rechtskategorie zu behandeln sei; diese Position vertraten Frohme und Stadthagen bekanntlich bereits während der Debatten in der zweiten Kommission zur Endfassung des Entwurfs des BGB, ohne es allerdings gegen die bürgerliche Mehrheit durchsetzen zu können.
Zum Inhalt der „Zuchthausvorlage“ selbst fällte Stadthagen a priori ein vernichtendes Urteil: „Der Entwurf „zum Schutze eines gewerblichen Arbeitsverhältnisses“ statuirt ein weit über § 153 der Gewerbeordnung hinausgehendes neues Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter in Deutschland. Verstößt ein Arbeiter bei Gelegenheit der Ausübung des Koalitionsrechts gegen irgend ein allgemeines Strafgesetz, so wird er wie jeder andere Bürger nach diesem bestraft. Das neue Gesetz bedroht aber eine große Anzahl Handlungen, die nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht strafbar sind, mit Strafe…Bestimmt irgend Jemand durch Drohungen, die ein anderes Uebel als die Begehung eines Verbrechens oder Vergehens in Aussicht stellen, oder durch Verrufserklärungen oder durch Ehrverletzung einen Anderen, einem Saufverein oder dem „Klub der Harmlosen“ beizutreten, so soll er auch künftig straflos bleiben. Unternimmt es aber ein Arbeiter, durch die gleichen Mittel einen Kameraden zum Beitritt eines auf Regelung der Lebenslage der Arbeiter hinarbeitenden Vereins zu bestimmen, so soll er nach dem Entwurf strafbar sein. Der Entwurf ist also ein Ausnahmegesetz schlimmster Art gegen die Arbeiter. Keine Kulturnation hat auch nur ein ähnliches aufzuweisen.“[8]
Stadthagen kämpfte als Jurist und Sozialpolitiker nicht nur für den Schutz der Arbeiter und ihrer Arbeitskraft und deren Behandlung als rechtliches Schutzgut, sondern konsequent gegen die Ausnahmegesetzgebung gegen die Arbeiterklasse, zu der während der Zeit des Kaiserreichs immer wieder gegriffen wurde. Damit die Arbeiterklasse ihre Selbstbefreiung erfolgreich in Angriff nehmen konnte, benötigte sie im Kapitalismus ihre rechtliche Gleichstellung. Stadthagen maß nicht zuletzt offensichtlich das Gleichheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft an dessen praktischer und juristischer Verwirklichung. Die von ihm immer wieder konstatierte Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität hatte ihn ja schließlich wohl auch zum Sozialisten werden lassen. Und dafür, dass das Recht im Kapitalismus vorwiegend auf der Seite der Besitzenden stand, lieferte ihm die „Zuchthausvorlage“ ein weiteres probates Anschauungsbeispiel. So fasste er die Zielrichtung der §§ 1 bis 3 der Vorlage – Streikvorbereitung und Streikaufruf betreffend – entsprechend zusammen: „Die Zulassung einer Geldstrafe von 3 bis 1000 Mark würde schwerlich anderen als Unternehmern zu Gute kommen. Daß dies auch die Ansicht des Entwurfs ist, ergiebt sich aus der Androhung einer Strafe bis zu 1000 Mark – einer Summe, die im Allgemeinen schwerlich einem Arbeiter zur Verfügung steht – und aus dem Zweck der Vorlage, die vermeintlich bislang zu geringen Strafen zu erhöhen. Die Erhöhung des Strafmaßes bis zu einem Jahr Gefängniß, die allein gegen die Arbeiter Anwendung finden wird, hat nebenbei noch die Wirkung, daß die Verjährung nicht wie die jetzt durch § 153 der Gewerbeordnung mit Strafe bedrohte Handlung in drei, sondern erst in fünf Jahren eintreten würde.“[9]
Durch den Vergleich der vorgesehenen Bestimmungen in der „Umsturzvorlage“ mit den bislang geltenden der Gewerbeordnung arbeitete Stadthagen minutiös heraus, an welchen Stellschrauben die Regierung zu regulieren beabsichtigte, um die Tätigkeit der Arbeiterbewegung zielgerichtet zu unterbinden. So stellte er am § 4 der Vorlage, welcher Maßnahmen im Rahmen eines Streikes den Straftatbeständen des körperlichen Zwanges bzw. der Drohung gleichzustellen intendierte, dass praktisch jede Konfliktsituation innerhalb eines Betriebes strafbar würde: „Dieser § 4 ist ein Kapitalstück ersten Ranges auf dem Gebiet juristischer Equilibristik und gesetzgeberischer Klassenjustiz…Im ersten Absatz wird jede Vorenthaltung oder Beschädigung von Arbeitsgeräthen, Arbeitserzeugnissen, Arbeitsmaterial oder Kleidungsstücken in „körperlichen Zwang“ umgewandelt. Zerreißt ein Arbeiter dem anderen ein Taschentuch, so hat er nach dieser Konstruktion gegen einen Menschen körperlichen Zwang angewendet.“[10] Doch auch seine Scharfzüngigkeit fand ihren Bezugspunkt in § 4 der „Umsturzvorlage“: „Die planmäßige Ueberwachung von Wegen, Straßen, Plätzen“ u. dgl. wird hier der Drohung „gleichgeachtet“. In den meisten Theilen Deutschlands wird die planmäßige Ueberwachung von Wegen, Straßen, Plätzen von Schutzleuten besorgt. Gar mancher Staatsbürger wird sich wundern, daß solche Ueberwachung juristisch eine – Drohung darstellt. Die Taschendiebe mögen den Vater dieser Bestimmung zum Ehrenmitglied ihrer Zunft ernennen.“[11]
Eine der schwersten Bedrohungen der Koalitionsfreiheit erblickte Stadthagen in der Bestimmung des § 1, der selbst die Mitgliedschaft in Vereinen unter Strafe stellte, die zu Arbeitskampfmaßnahmen aufriefen. Würde diese Bestimmung zu geltendem Recht, so folgerte er, würde die gesamte Gewerkschaftsbewegung „vogelfrei“.[12] Stadthagen zog das Fazit, die „vorstehenden Ausführungen haben sich auf das rein juristische Gebiet beschränkt. Ihr Ergebnis ist: der Entwurf ist ein Ausnahmegesetz, wie es schroffer der Arbeiterklasse gegenüber nie geboten ist und kaum gestaltet werden konnte. Er untergräbt die Grundlagen einer auf der Arbeit Freier beruhenden Rechts- und Gesellschaftsordnung. Sein Bestreben, die Arbeiter zu willenlosen Arbeitswerkzeugen der Unternehmerklasse zu machen, ist eine Kriegserklärung gegen die Arbeiterklasse und gegen die Kulturaufgaben. Auf, zum Kulturkampf!“[13]
In Heft 51 der „Neuen Zeit“ des Jahrgangs 1899 veröffentlichte Arthur Stadthagen eine „Charakteristik der Instleute“.[14] Damit klärte er die Leserschaft des inoffiziellen Theorieorgans der marxistischen Sozialdemokratie um Bebel und Kautsky über die besondere rechtliche und soziale Lage einer kleinen Gruppe innerhalb der Bauernschaft insbesondere des Nordens und Nordostens in Deutschland auf. Diese Bauernschicht geriet durch die Entwicklung hin zum bäuerlichen Großbetrieb immer stärker unter Druck. „Dies Ueberbleibsel aus der feudalistischen Naturalwirthschaft ist in der Gegenwart um so drückender für den Arbeiter, je mehr der Großgrundbesitzer es verstanden hat, seine Pflichten den Instleuten gegenüber erheblich herabzusetzen und die der Instleute unter rücksichtsloser Ausbeutung der veränderten Form des Betriebes zu erhöhen.“[15] Ohne es explizit auszudrücken griff Stadthagen somit in die Agrardebatte in der SPD ein, für die ja Karl Kautsky seine Abhandlung „Die Agrarfrage“ just im Jahr 1899 veröffentlicht hatte. Indem er die Bedingungen einer Gruppe kleiner Bauern unter die Lupe nahm, wandte sich Stadthagen gegen die Position der süddeutschen Reformisten um Georg von Vollmar, die das kleinbäuerliche Eigentum zu fördern gefordert hatten. Stadthagen hingegen beleuchtete die Lage der Instleute unter der Prämisse, dass die Entwicklung zum bäuerlichen Großbetrieb eine zwangsläufige sei, die sich folglich auf die Dienstbedingungen der Instleute niederschlagen müsse. So sei durch den technischen Fortschritt, durch die Verdrängung der Weide- durch die Stallfütterung und den Anbauwechsel von Getreide zu Hackfrüchten die früher auf ein Jahr verteilte Arbeit vorwiegend Saisonarbeit geworden und habe für die Instleute zu einer etwaigen Halbierung ihrer Lohntage geführt. Außerdem hätten Geldleistungen die alten Deputate in Naturalien ersetzt und zu einer erheblichen Leistungsminderung zu Lasten der Instleute geführt.[16] Dies habe zur Entstehung eines Interessengegensatzes zwischen Großgrundbesitzern und Instleuten geführt, wo vormals eine Art Interessengemeinschaft vorherrschte: Hatten beide vor der Zeit der Dominanz des Großbetriebes das gemeinsame Interesse an hoher und guter Ernte, so interessieren nun den Großbauern vor allem der niedrige Tagelohn für seine Dienstkräfte und hohe Lebensmittelpreise. Der Instmann hingegen strebe nach hohem Tagelohn und niedrigen Lebensmittelpreisen, um seine Lebensbedingungen erträglich zu halten. Die Scharwerker wiederum, die zu unterhalten der Instmann oft verpflichtet war, „steht nach dem preußischen Gesetz vom 24. April 1854 und nach dem mecklenburgischen vom 16. August 1892 auch zu dem Gutsherrn selbst in einem Botmäßigkeitsverhältniß. Er muß nach dem Gesetz das Wunder, zwei Herren zu dienen, fertig bringen.“[17] Diese materielle Schlechterstellung als Folge des Konzentrationsprozesses auf dem Lande und die oft unwürdigen Lebensverhältnisse führten zur Abwanderung vieler Instfamilien nach Westen, wo die Lebensverhältnisse bessere waren. Der Staat, in dem Falle Preußen, musste zur Verbesserung der Wohnverhältnisse beitragen, wodurch Landarbeiterwohnungen entstanden, sperrte sich jedoch häufig gegen die Umsetzung von unumgänglichen Maßnahmen, wie Stadthagen belegte.[18] Den Großbauern warf Stadthagen vor, sie forderten stärkere rechtliche Fesseln für die Instleute oder gar ausländische Saisonarbeiter, statt eine materielle Besserstellung zuzulassen. „Der Einfluß des Großgrundbesitzes hatte es zu dem formidablen Vorschlag im bürgerlichen Gesetzbuch gebracht, zu gestatten, daß derartige Dienstverhältnisse wie die der Instleute zu lebenslänglichen gemacht werden dürften, sobald den Instleuten freigestellt würde, die von ihnen übernommene Arbeit durch einen Anderen (Scharwerker) verrichten zu lassen. Wäre dieser Vorschlag durchgegangen, so wäre die alte Leibeigenschaft und der erbunterthänige Zwangsdienst mit dem Beginn des kommenden Jahrhunderts für Deutschland wieder eingeführt“.[19] Die Sozialdemokratie, also namentlich Karl Frohme und er in der Zweiten BGB-Kommission, hätten erfolgreich die Umsetzung dieses Anachronismus verhindert.
Stadthagen stand hier voll auf dem Boden der marxistischen Position, als er mit Blick auf den Großbauern die Gegentendenzen anführte, die auf dem Land zu wirken begännen: „das gemeinschaftliche Arbeiten und Wohnen der Wanderarbeiter, die von ihm für einige Monate gedungen werden, stärkt das Solidaritätsgefühl innerhalb der Landarbeiterschaft. Die Wanderarbeiter bringen das Bewußtsein der Klassengemeinschaft aller Arbeiter auch dem Instmann bei, dem ebenso wie dem Kleinbesitzer die Erkenntniß von dem Klassengegensatz zum Großgrundbesitzer durch die realen Verhältnisse aufzugehen begonnen hat.“[20]
Im Hintergrund stand bei Stadthagen vermutlich die schon im „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels formulierte Auffassung, dass alle anderen Klassen als die der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse stetig aufgelöst werden beziehungsweise im Proletariat aufgehen oder an dessen Seite gedrängt werden durch die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.[21] In diesem Sinne sekundierte er der marxistischen Position in der Agrarfrage. Gleichzeitig klärte er die Leserschaft der „Neuen Zeit“ über die trotz der Rechtseinheit durch das Bürgerliche Gesetzbuch noch bestehenden Ausnahmegesetze für Teile der arbeitenden Bevölkerung auf. Hierin lag sein politischer Ansatz für eine sozialdemokratische Rechtspolitik: Alle Ausnahmegesetze gegen die Arbeiterklasse seien zu identifizieren und abzuschaffen, zumindest auf den Stand, den das BGB zuließ, da es in Vielem den Spielraum für die Arbeiterbewegung etwas erweitert hatte. Dieses mag Stadthagen schon 1896 so gesehen haben, was seine anfängliche Bereitschaft zur Zustimmung im Reichstag nachträglich erklären könnte und von dieser Warte aus auch im Formelkompromiss der Fraktion zum Ausdruck kam. Doch ist dieses Verhalten Stadthagens wirklich als Inkonsequenz zu beurteilen? Das mag tun, wer Theorie gegen Praxis wenden möchte. Für einen Lehrer oder Rechtslehrer jedoch kommt es bei aller Theorie darauf an, lebenspraktische Tauglichkeit zu erreichen, aufzuklären, Situationen zu verbessern. Insofern griffen bei Stadthagen womöglich programmatische Radikalität und lebenspraktisch orientierte Hilfestellung für die Arbeiter, so wie er sie verstand, gelegentlich auf eine andere als die parteioffizielle oder dogmatische Weise ineinander.
In diesem Kontext steht auch der dritte Artikel aus diesem Zeitabschnitt mit dem Titel „Ausnahmerechte gegen die ländlichen Arbeiter in Deutschland“, der 1900 in der „Neuen Zeit“ erschien.[22] Er war schon vorher verfasst, konnte jedoch aus Platzgründen erst in der genannten Ausgabe publiziert werden.
Auch in ihm arbeitete Stadthagen Ausnahmerechte heraus, die weit hinter die Bestimmungen des BGB zurück fielen und die Lage der Betroffenen negativ beeinflussten. „Vom 1. Januar 1900 ab unterstehen die Rechtsverhältnisse der ländlichen Arbeiter, soweit dieselben nicht zum Gesinde gehören, den allgemeinen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Anders liegt es auf dem strafrechtlichen und polizeilichen Gebiet. Auf diesem giebt es eine Reihe ausnahmerechtlicher Bestimmungen. Sie betreffen einen großen Teil von Preußen, Bayern, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Anhalt.“[23] Allein die Größe und Bevölkerungszahl Preußen und Bayern zusammengerechnet ergibt, dass die im Folgenden von Stadthagen dargelegte Rechtslage von einer Rechtseinheit noch weit entfernt war, vor allem für die „kleinen Leute“.
So erschwerte das preußische Gesetz vom 24. April 1854 jede Form von Koalition und Interessenvertretung für alle abhängig Beschäftigten auf dem Land und drohte bei Verstößen mit Geld- und Haftstrafen, die der Grundherr bei der Lokalpolizeibehörde oder beim Landrat beantragen konnte. Folgende „Delikte“ führte Stadthagen auf: „1. „Ungehorsam oder Widerspenstigkeit“ gegen den Arbeitgeber – ja den Instleuten und herrschaftlichen Tagelöhnern gegenüber, auch gegen die Herrschaft, mit welcher der Instmann in keinem Vertragsverhältnis steht. 2. Unberechtigtes Verlassen oder Nichtantreten des Arbeitsverhältnisses. 3. Verabredung der Arbeitseinstellung oder Aufforderung hierzu.“[24] Sämtliche ländlichen Arbeitergruppen, also Saisonarbeiter, Dienstmänner, Handwerker, Scharwerker, waren von diesen willkürlichen Maßnahmen betroffen, die dem Grundherrn eine noch immer der Leibherrschaft nahe kommende Machtfülle verliehen. Zur eingeschränkten Koalitionsfreiheit merkte Stadthagen an, es „erschwert den ländlichen Arbeitern außerordentlich den Weg, durch gewerkschaftliche „Vereinigungen sich wenigstens vorübergehend eine bessere wirthschaftliche Lage zu schaffen und das Klassenbewusstsein zu stärken.“[25] Besonders die Verabredung zum Streik als des geeignetsten Mittels zur Durchsetzung materieller Interessen konnte mit Haft bestraft werden, so dass die rechtlich seit 1854 bestehende rudimentäre Koalitionsfreiheit faktisch außer Kraft gesetzt war. Auch hier protestierte Stadthagen heftig gegen die Benachteiligung der Arbeiterschaft und maß diese Ungerechtigkeit am Anspruch der Verfassung Preußens: „Zunächst ist es eine offenbare Ungerechtigkeit, zwar den Arbeitgebern zu gestatten, sich gegen die Arbeiter zu verabreden, insbesondere auch zur Entlassung von Arbeitern oder zur Drohung der Entlassung zwecks Lohnherabsetzung etc. sich zu verabreden oder aufzufordern, den Arbeiter aber mit Gefängniß bis zu einem Jahre wegen der Verabredung der Niederlegung der Arbeit zwecks Erlangung besserer Lohnbedingungen oder wegen Aufforderung dazu zu bestrafen. Es kann billig bezweifelt werden, daß dieser Zustand mit dem Sinne des Satzes der preußischen Verfassung übereinstimmt: „Vor dem Gesetz sind alle Preußen gleich.“ “[26]
Stadthagen legte dar, welche konkreten Benachteiligungen dieses preußische Ausnahmegesetz für die Landarbeiter bereithielt. Nicht nur, dass dem Grundherrn im Streikfalle die Kollektiventlassung von Arbeitern gestattet war, das Gesetz von 1854 „unterbindet den freien Gebrauch der Arbeitskraft und die freie Bestimmung der Bedingungen, unter welchen die Arbeit geleistet werden soll. Er (§ 3, d. Verf.) schließt dasjenige Mittel, durch welches der Arbeiter bei dem Verkauf seiner Arbeitskraft seinen Forderungen besonderen Nachdruck verleihen kann – die Verabredung der gemeinschaftlichen Arbeitseinstellung – aus. Die Strafbestimmung des § 3 setzt den Verkäufer der Waare Arbeitskraft in eine weit ungünstigere Position, als den Verkäufer irgend einer anderen Waare.“[27] Auch hier also zeigte sich die marxistische Grundlage seiner rechts- und sozialpolitischen Positionen, denen die von Marx entwickelte Definition des Arbeiters als des „doppelt freien Lohnarbeiters“ zugrunde lag.
Faktisch verunmöglichte es diese Gesetzgebung dem Arbeiter, zu anderen Bedingungen zu arbeiten als unter jenen, „die allein der Arbeitgeber vorschreibt. Die Beschränkung des Koalitionsrechts durch das Gesetz vom 24. April 1854 beschränkt die Freiheit der Person des Arbeiters und leistet gleichzeitig dem Arbeitswucher Vorschub.“[28]
Stadthagen sah voraus, dass die Entwicklungstendenz zum landwirtschaftlichen und technisch modernisierten Großbetrieb eine deutliche Novellierung arbeitsrechtlicher und politischer Normen für die Arbeiterschaft erforderten, wolle man eine Arbeiterschaft zweiter Klasse auf dem Land verhindern oder gar die im industriellen Bereich erkämpften kleinen Fortschritte nicht verlieren. Er wies auf die vergeblichen Bemühungen der Sozialdemokratie im Reichstag hin, hier im Interesse der Gesamtarbeiterschaft gegenzusteuern, und betonte: „Und doch ist die Beseitigung dieser Ausnahmevorschriften, die der Ausübung des Koalitionsrechts seitens der ländlichen Arbeiter entgegenstehen, um so nothwendiger, je mehr der landwirthschaftliche Großbetrieb sich ausbreitet, mit Maschinen arbeitet, mit industriellen Unternehmungen, wie Brennereien, Zuckerfabriken und dergleichen verquickt wird, und je mehr er wie andere industrielle Unternehmungen mit seinen Produkten werbend auftritt, kurz ein Gewerbe wie alle anderen Gewerbe geworden ist.“[29]
Stadthagen nannte für den Hoheitsbereich Preußens noch eine weitere Ausnahmebestimmung, die die Instleute betraf. Sie konnten in Teilen des Landes polizeilich zum Dienstantritt gezwungen werden, was Stadthagen dem Bestreben der Junker zuschrieb, „die Instleute als ihr Gesinde zu behandeln.“[30] In diesen betroffenen Bereichen wie West- und Ostpreußen übte die Polizei praktisch die Aufsehertätigkeit über die Instleute aus und fungierte somit als verlängerter Arm der Großgrundbesitzer.
Diese Ausnahmebestimmungen zu beseitigen strebte Stadthagen an und sah den politischen Hebel dazu in der Beseitigung des Rechtspartikularismus, wie er schrieb: „Desto eifriger muß das Bestreben sein, eine ausdrückliche Aufhebung der ausnahmerechtlichen landesgesetzlichen Strafgesetze gegen die ländlichen Arbeiter und gegen das Gesinde von Reichswegen zu erzielen, sowie letzteren zu ermöglichen, von dem schmalen Theile des den ländlichen Arbeitern zustehenden Vereinigungsrechts Gebrauch zu machen.“[31] Insofern dachte Arthur Stadthagen aus sozialistischer Perspektive sowohl eine wirkliche Rechtsreform vor, die eine klare Hierarchisierung zwischen Bundes- und Landesrecht zu schaffen hatte, wie er auch politisch-taktisch den Spielraum der Arbeiterbewegung durch die Ausschöpfung des Optimums des Gegebenen im Blick hatte. Und so konnte Stadthagen auch auf einen parlamentarischen Erfolg der SPD verweisen, die den § 888 der ab dem 1. Januar 1900 geltenden neuen Zivilprozessordnung „gekippt“ hatte. Der Zwang zur Rückkehr in ein Arbeitsverhältnis durch polizeilichen Zwang mit Hilfe der Androhung von Geld- oder Haftstrafen selbst nach gerichtlichem Urteil war mithin unzulässig.[32]
Bisher hatten auch in Bayern Gesindearbeitern und Tagelöhnern Haftstrafen von bis zu vierzehn Tagen gewinkt, wenn sie erstmals ihrer Arbeit während der Zeit der Aussaat oder der Ernte ferngeblieben waren; im Wiederholungsfalle drohte sogar eine Haft von drei Wochen. Nun war auch diese polizeistaatliche Bestimmung hinfällig geworden.
In Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz hingegen galten Strafbestimmungen weiterhin für Hofgänger und andere Dienstpersonen, bildeten also einen ausnahmerechtlichen Tatbestand, auf den Stadthagen hinwies. Ebenso konnten in diesen Bundesstaaten bislang auf diese Weise verhängte Geldstrafen durch den Grundbesitzer mittels Lohneinbehalt zu Lasten des Dienstmannes beigebracht werden. Stadthagen vermerkte, dass der § 894 des neuen BGB eben diese Maßnahme aus der Welt geschafft habe.[33] Auch seien sämtliche polizeilichen Zurückführungsrechte gegen nicht zum Gesinde gehörige Dienstpersonen und Arbeitskräfte wie in Preußen durch Bundesrecht zum Erliegen gekommen, merkte Stadthagen an. Auch die im Herzogtum Anhalt noch 1899 erlassenen Gesetze, in denen unter anderem auch die gewerkschaftliche Betätigung mit Geld- oder Haftstrafen bedroht wurde, „sind nach dem oben Ausgeführten der Reichsgesetzgebung widersprechend und deshalb ungiltig.“[34] Stadthagen forderte zur Verbesserung der Rechtssicherheit, dass es Ländern unmöglich sein müsse, Bestimmungen zu erlassen, für die allein das Reich zuständig sei.
Insgesamt unterzog Stadthagen diese Ausnahmegesetzgebungen in den Ländern einer scharfen Kritik. „Sie beruhen durchweg auf dem Gedanken, daß ein ländlicher Arbeiter kein rechtlich freier Arbeiter, sondern ein Sklave sei, der wie ein solcher zur Arbeit geführt wird und mit den Machtmitteln des Staates zum „Gehorsam“ und zur „Botmäßigkeit“ gegen seinen „Herrn“ erzogen werden müsse. Die Landarbeiter in Deutschland“, so Stadthagen weiter, „haben begonnen, sich gegen die Tendenz aufzubäumen, daß sie keine Menschen, sondern Arbeitsvieh seien. Sie werden ihre Menschenrechte trotz aller solcher Ausnahmegesetze erkämpfen, welche gegen die Grundlage der bestehenden Wirthschaftsordnung, nämlich gegen die rechtliche Freiheit des Arbeiters gerichtet sind. Mit einer Rechtsgemeinschaft, die auf der Arbeit Freier beruht, sind die angeführten Ausnahmegesetze unvereinbar.“ Und am Schluss verdeutlichte der Autor nochmals seinen prinzipiellen Rechtsstandpunkt: „Die Geburtshelfer solcher Gesetze zeigen übrigens klar, von welch grenzenloser Verachtung ehrlicher Arbeit sie beseelt sind. Die wirthschaftliche Entwicklung und die aus ihr folgende Nothwendigkeit rechtlich freier Arbeiter ist unvereinbar mit solchen Ausnahmegesetzen. Dieselben würden unwirksam sein, auch wenn sie nicht auf partikulargesetzlichem, sondern auf reichsgesetzlichem Papier gedruckt würden.“[35] Dadurch kommt eine weitere gedankliche Tendenz Stadthagens zum Ausdruck, nämlich die Erwartung einer deutlich gestärkten Zentralstaatlichkeit im Deutschen Reich, die aus der Entwicklung des Kapitalismus erwachsen würden, der ja – anders als die Feudalgesellschaft – die Ausweitung des Marktraumes und angeglichene Verwertungsbedingungen für seine ökonomische Tätigkeit benötigt. Dem müsste konsequenterweise auch die Rechtsordnung folgen, damit auch für die Arbeiterklasse überall gleiche Bedingungen, auch ihres Kampfes, herrschen könnten.
Stadthagens zweiter Ratgeber: „Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch“ aus dem Jahr 1900
Nach dem großen Erfolg seines Erstlingswerkes „Das Arbeiterrecht“, das 1896 in zweiter Auflage erschien, sah sich Stadthagen zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 veranlasst, das „Arbeiterrecht“ gemäß der neuen Gesetzeslage zu aktualisieren und zu erweitern. Wie er im Vorwort zur dritten Auflage 1900 schrieb, „würde eine neue Auflage gegenüber den großen Umwälzungen, die durch das Bürgerliche Gesetzbuch, die Zivilprozeßnovelle, die Gewerbeordnungsnovelle, das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb, das neue Invalidenversicherungsgesetz u.s.w. hervorgerufen sind, doch ihren praktischen Werth wenigstens für die Zeit vom 1. Januar 1900 an eingebüßt haben. Er erschien mir unthunlich, ein auch von ärmeren Kreisen vielfach gekauftes Werk erscheinen zu lassen, das in wenigen Jahren unbrauchbar werden mußte. Die älteren Auflagen sind durch die erwähnten Gesetze werthlos geworden.“[36] Daher wartete er für das Erscheinen der dritten Auflage das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches ab. Die fälligen Aktualisierungen ließen die Seitenzahl von 352 der ersten Auflage auf 448 der dritten Auflage anwachsen. Im Vorwort äußerte sich Stadthagen auch zur Resonanz der vorher gegangenen Auflagen: „Es sind die früheren Auflagen in Zeitschriften und Zeitungen der verschiedensten Richtungen außerordentlich günstig beurtheilt worden. Auch sind mir durch viel private Zuschriften von Arbeitern und – es hat mich dies überrascht – auch aus Unternehmer- und Juristenkreisen anerkennende und dankende Urtheile zugegangen. So angenehm auch solche Anerkennungen für den Verfasser eines Werkes sind, das den Bedürfnissen weiter Kreise gerecht werden will, so wäre mir doch auch eine Mittheilung der bei einer solchen Arbeit unvermeidbaren Mängel recht erwünscht, um die Fehler beseitigen zu können.“[37]
Für späteren Aktualisierungsbedarf hatte der Verlag J.H.W. Dietz Vorkehrungen getroffen, denn Änderungen in der Gesetzgebung, so stellte Stadthagen heraus, könnten auch in besonderen Nachträgen publiziert werden. Im Falle der Novellierung der „Gewerbeordnung“ von 1908 nutzte Stadthagen diese Möglichkeit.[38]
Die Abfassung des Vorwortes datiert vom März 1900. Die dritte Auflage des „Arbeiterrecht“ enthält als Ergänzung seinen zweiten Rechtsratgeber „Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch“ mit dem Untertitel „Gemeinverständliche Darstellung der für die erwerbstätige Bevölkerung wesentlichen Rechtsverhältnisse.“[39]
Sein Vorwort fiel nahezu spartanisch aus: „Das vorliegende Werk will nicht einen neuen Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu den vielen vorhandenen hinzufügen. Es will die für die erwerbsthätige Bevölkerung wichtigsten Bestimmungen darlegen und erläutern und den Weg weisen, wie die aus dem Gesetz folgenden Rechte geltend gemacht werden können. Es zieht deshalb auch eine Reihe das Bürgerliche Gesetzbuch ergänzender Vorschriften in Betracht und klammert sich nicht an die Reihenfolge des Gesetzbuchs.“[40]
Der Leser vermochte gleich im detaillierten Inhaltsverzeichnis das für ihn wesentliche Stichwort oder den gesuchten Rechtsgegenstand aufzufinden. In dreizehn Kapiteln wurden die wichtigsten, das Gros der Leserschaft betreffenden Aspekte aufgelistet und abgearbeitet. Das vierzehnte Kapitel enthielt auf 28 Seiten exakt 60 Musterformulare oder Musterschreiben, die es dem Rechtsuchenden erleichtern sollten, seine Interessen Behörden, Gerichten und Unternehmern gegenüber zur Geltung zu bringen. Hier erwies sich Stadthagen einmal mehr als ein Rechtslehrer der Arbeiterbewegung und der „kleinen Leute“.
Dem Inhaltsverzeichnis angefügt wurde ein alphabetisches Sachregister, das von „Ablehnung eines Vertragsantrags“ bis „Zwangsversteigerung eines Grundstücks“ elementare und alltägliche Suchstichwörter des Rechtslebens auflistete und auffindbar machte.
Das erste Kapital des Ratgebers thematisierte „Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit“. Das Staatsangehörigkeitsrecht vom 1. Juni 1870 kannte fünf Gründe für den Besitz oder den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit: Die Abstammung, die Ehelichkeitserklärung eines unehelichen Kindes durch einen Deutschen, die Heirat, bei der die nichtdeutsche Frau die Staatsangehörigkeit des deutschen Mannes erwirbt, die Verfügung durch die Staatsgewalt und die Naturalisation. Zum dritten Grund, der Heirat, schrieb Stadthagen: „Heirathet also ein Deutscher eine Russin, so wird die Russin Deutsche. Heirathet umgekehrt ein Russe eine Deutsche, so wird die Deutsche Russin.“[41] Diese Passage bot – ob bewusst so formuliert oder nicht, bleibt dahingestellt – eine Rechtshilfe für Fälle wie jenen Rosa Luxemburgs, die ja die deutsche Staatsbürgerschaft als im kongresspolnischen Zarenreich geborene Polin durch ihre Heirat mit Gustav Lübeck erworben hatte. Eine Scheidung wäre dann folgenreich für Rosa Luxemburg, wenn sie ihren Lebensgefährten Leo Jogiches geheiratet hätte. Dann wäre sie erneut der deutschen Staatsbürgerschaft verlustig gegangen. Stadthagen vertrat Rosa Luxemburg schließlich als Rechtsberater im Scheidungsprozess in Zürich.[42]
Es lohnt sich der Blick in die 1900 gültigen Rechtsvorschriften und ihre Darlegungen durch Stadthagen auch dann, wenn man nur zufällig blättert. Zum Kapitel „Scheidung der Ehe“ finden wir folgende längere Ausführung: „Die Auseinandersetzung wegen des Vermögens nach der Ehescheidung ist im Einzelnen im Gesetz geregelt. Als Regel gilt, daß jeder Theil sein Vermögen zurückerhält. Diese Vorschrift übt eine für die Ehefrau ungünstige Wirkung aus, wenn die Ehefrau im Geschäft des Mannes oder ausschließlich im Haushalt des Mannes thätig und nicht wirthschaftlich selbständig war. Da nämlich das, was während der Ehe „gemeinsam“ erworben wird, falls keine abweichende Bestimmungen getroffen sind, dem Ehemann zufällt, so geht die Ehefrau leer aus, die im Geschäfte des Mannes oder im Haushalt ihre Arbeitskraft verwendet hat. Gegen diese nachtheilige Folge kann sie sich durch einen Vertrag schützen. Ein Beispiel veranschauliche dies. Der Hausdiener Fleißig heirathet die Arbeiterin Emsig. Fräulein Emsig bringt 500 Mark ein. Bald nach der Heirath beginnt Herr Fleißig, der selbst 3000 Mark besitzt, ein Restaurationsgeschäft auf eigenen Namen. Seine Frau bringt ihm ihre 500 Mark oder legt ihr Vermögen irgendwie anders an. Einen Vertrag zu schließen verabsäumen die Eheleute. Das Restaurationsgeschäft florirt – vielleicht insbesondere in Folge der Thätigkeit, die die Ehefrau dem Geschäft widmet. Nach 10 Jahren ist das durch den Restaurationsbetrieb erworbene Vermögen auf 20000 Mark angewachsen. Die Ehe wird geschieden. Es erhält dann die Ehefrau, gleichviel ob sie oder ihr Ehemann für schuldig erklärt ist, nur ihre 500 Mark zurück; an dem Ertrag der Restauration nimmt sie keinen Theil. Diesen für die Ehefrau, insbesondere des Mittelstandes, sehr nachtheiligen Folgen kann nur durch einen Ehevertrag entgegengetreten werden.“[43] Einen Mustervertrag lieferte Stadthagen gleich mit, und zwar auf der Seite 225, Nr. 22. Dort beinhaltete dieser, im Güterrechtsregister einzutragende Vertrag die Erklärung der Eheschließung, die Gütertrennung, die gleiche Anteiligkeit beider am zu erwerbenden Vermögen, die Einverständniserklärung des Gatten zu allen von seiner Frau namentlich geschlossenen Verträgen sowie die Berechtigung der Frau, aus dem Vermögen „einen Beitrag zur Bestreitung des ehelichen Aufwandes zu leisten.“[44]
Ein eigenes Kapitel widmete Stadthagen den Rechten der unehelichen Kinder, einer Frage, zu der er sich bereits mehrfach im Reichstag geäußert hatte. Hier eröffnete er seine Ausführungen mit einem rechtshistorischen Exkurs, der die außerordentlich benachteiligte Rechtsstellung unehelicher Kinder im geschichtlichen Prozeß seit dem Mittelalter nachweisen sollte. Vor allem arbeitete er gut verständlich heraus, dass vor allem die prinzipielle Frage der Anerkennung der Vaterschaft und der damit verbundenen Verpflichtungen über gerechte oder ungerechte Stellung unehelicher Kinder in allen Rechtsquellen entschieden habe. So habe das in Teilen Deutschlands bis zum 31. Dezember 1899 noch geltende napoleonische Gesetzbuch des „code civil“ lediglich Unterhaltsansprüche des unehelichen Kindes zugelassen, wenn der Vater seine Vaterschaft freiwillig anerkannt habe. Bei allen im Deutschen Reich bis 1899 gültigen Gesetzbüchern divergierten die Bestimmungen beträchtlich.[45]
Das BGB, so Stadthagen, habe diese territorial bedingte Rechtsverschiedenheit im Reich abgeschafft, „lehnt es aber durch den berühmten, an des Sachsenspiegels Vorschrift anklingenden Satz: „ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt“ ab, eine Verwandtschaft des Kindes mit seinem Vater anzuerkennen. Die außerordentliche soziale Bedeutung der Rechtsstellung der unehelichen Kinder zwang aber zu einer Anerkennung der Alimentationspflicht des Vaters in einem über die meisten früheren deutschen Gesetzgebungen hinausgehenden Maße. Die wirthschaftliche Entwicklung drängt auf völlige Gleichstellung der Rechte außerehelicher Kinder mit denen der ehelichen.“[46]
Im Folgenden erläuterte Stadthagen die Unterhaltspflicht des Vaters und deren Umfang näher. Das BGB verpflichtete den Vater – im Gegensatz zu den vorigen Rechtsquellen – zur Leistung des vollen Unterhaltsbetrages, der den gesamten Lebensunterhalt sowie die Kosten von Erziehung und Ausbildung bzw. Berufsausbildung beinhaltete. Dennoch merkte Stadthagen hier kritisch an: „Die Höhe des Unterhalts sollte sich nach der Lebensstellung des Vaters richten. Dahin gehende Anträge sind aber im Interesse der Unsittlichkeit Wohlhabender abgelehnt. Die Höhe der Alimente richtet sich nach dem Gesetz nach der Lebensstellung der Mutter. Bestimmte Sätze kennt das Gesetz nicht“.[47] Bei allem Fortschritt also noch genügend Rücksichten auf Reichtum und Patriarchat. Der Unterhaltsanspruch galt nun bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres – vorige Rechtsquellen legten meistens das 14. Lebensjahr fest -, in Ausnahmefällen (Unmöglichkeit, sich selbst zu ernähren) sogar eingeschränkt darüber hinaus. Weiterhin war die Alimente für je drei Monate im Voraus als geldliche Leistungen zu entrichten, Abfindungssummen waren rechtsungültig.
Mit Blick auf die persönlichen Schicksale der Betroffenen, besonders der Frauen, legte Stadthagen recht umfassend die Möglichkeiten dar, ein uneheliches Kind „zu legitimieren“. Dies könne in erster Linie durch die Heirat zwischen Kindsvater und Mutter zustande kommen, wodurch das Kind die volle Rechtsstellung erlange. Zweitens könne die Ehelichkeitserklärung beantragt werden, notfalls über das Vormundschaftsgericht. Drittens käme die Adoption „An Kindes statt“ in Frage, viertens in Form der Pflegschaftserklärung.[48]
Hier leistete Arthur Stadthagen nicht nur Rechtsberatung, sondern mehr oder minder sogar praktische Lebenshilfe für Betroffene, denn diese Problemlage beschäftigte viele der „kleinen Leute“, zumal es oft eine materiell drängende Frage gewesen sein dürfte. Diese Nähe zur Realität und die klare Sprache machen es verständlich, dass beide Rechtsratgeber Stadthagens so hohen Absatz fanden. Sie waren einfach praktisch und ein adäquates Mittel zur rechtlichen Selbsthilfe. Und vielleicht resultierte die Tatsache, dass Stadthagen 1899/1900 seinen „Erstling“ überarbeitete, eine Art Fortsetzung schrieb und parallel dazu drei Artikel für die „Neue Zeit“ verfasste, auch aus dem Umstand eines Zeitgewinns durch die Entlastung, die ihm die neu hinzu gestoßenen Juristen Hugo Haase, Wolfgang Heine und Joseph Herzfeld seit 1897/98 in der Fraktion verschafft hatten.
Natürlich widmete sich Stadthagen ausführlich dem Arbeitsrecht. Hierzu merkte er zu Beginn seiner Darstellung kritisch an, dass in diesem Vertragsbereich von einer Rechtseinheitlichkeit noch lange keine Rede sein könne, so waren zum 1.1.1900 die Rechte der Bergarbeiter und des Gesindes noch der Ländergesetzgebung zugeordnet. Außerdem griff das BGB, so Stadthagen, in andere Rechtsgrundlagen ein, beispielsweise in die Gewerbeordnung, in das Handelsgesetzbuch oder in die Seemannsordnung. Daher sprach Stadthagen von einer „zerrissenen Rechtslage“.[49] Deshalb ging er im Weiteren besonders auf die arbeitsvertragliche Rechtslage der betroffenen nichtgewerblichen Arbeitergruppen ein.
Vor allem sei es durch das BGB nicht gelungen, die Aufhebung der Gesindeordnung zu verwirklichen, jedoch seien, wie Stadthagen schon in der „Neuen Zeit“ geschrieben hatte, das grundherrschaftliche Züchtigungsrecht und der vollständige Mangel an Krankenfürsorge beseitigt worden.[50]
Wichtig für die Arbeitsbedingungen der ländlichen Arbeiter waren nicht zuletzt die durch das BGB festgelegten Kündigungsfristen. Hier entstand in der Tat ein langsam wachsendes Maß an Rechtssicherheit für die Arbeiter auf dem Lande. Tagelöhner konnten nicht mitten am Tage gekündigt werden, wie auch Wochenlöhne am ersten Tag der Woche gekündigt werden mussten, um zum Wochenende wirksam werden zu können. Mehrmonatige Verträge wiederum konnten nur zum Monatsanfang für das Monatsende aufgehoben werden, längerfristige Verträge nur noch zum Ende des Kalendervierteljahres unter Wahrung einer Kündigungsfrist von sechs Wochen; Stücklohnarbeiter konnten sich auf eine Frist von zwei Wochen berufen.[51]
In einem weiteren Kapitel befasste sich Stadthagen mit dem Besitz und dem Eigentum. Er erläuterte den Lesern den Zweck des Grundbuches und zum Beispiel nachbarrechtliche Bestimmungen, die das soziale Zusammenleben von Grundstückseigentümern regelten. So waren die Kirschen in Nachbars Garten tatsächlich die Kirschen des Nachbarn, wenn sie von einem Kirschbaum auf das Nachbargrundstück herab gefallen waren.[52]
Im Schlussteil des Ratgebers gab Stadthagen seinen Lesern 60 Musterbriefe und Musterformulare an die Hand, mit deren Hilfe sie ihre unmittelbaren Rechtsangelegenheiten weitgehend selbstständig zu regeln vermögen sollten. Eherecht, Vormundschaftsrecht, Mietrecht, Vereinsrecht, Todesfall, alle Rechtsbereiche des gesellschaftlichen Alltags wurden tangiert, für vereinsrechtliche Fragen legte Stadthagen Mustersatzungen vor. Die Leserschaft dankte Stadthagen für dessen Vorbedacht mit vier Auflagen des „Führers durch das Bürgerliche Gesetzbuch.“
[1] Pardemann, S. 202 (Vorwärts vom 17. September 1898)
[2] Stadthagen, Die Zuchthausvorlage, Neue Zeit (NZ), Band 17, Heft 39 (1899), S. 388ff
[3] Ebenda, S. 389
[4] Ebenda, S. 389
[5] Ebenda
[6] Ebenda, S. 390
[7] Ebenda
[8] Ebenda, S. 390f
[9] Ebenda, S. 392
[10] Ebenda, S. 395
[11] Ebenda, S. 396
[12] Ebenda, S. 392
[13] Ebenda, S. 398
[14] Instleute, im Norden und Nordosten Deutschlands üblicher Name für die kontraktlich an eine bestimmte Herrschaft gebundenen Gutstagelöhner, die großenteils aus den Inhabern der seinerzeit nicht für regulierungsfähig erklärten Bauernstellen hervorgegangen sind. Sie erhalten neben einem festen Geldlohn bestimmte Naturalbezüge (Wohnung, Feuerung, Kartoffel- und Gemüseland, Futter etc.); dagegen sind sie verpflichtet, sich selbst täglich auf dem Gutshof zur Arbeit einzufinden sowie einen zweiten Arbeiter (Scharwerker oder Hofgänger, s. d.), nötigenfalls auch die Frau als dritte Arbeitskraft mitzubringen; http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Instleute, Zugriff am 24. Mai 2010
[15] Stadthagen, Charakteristik der Instleute, Neue Zeit, Band 17, Heft 51 (1899), S. 787-790
[16] Ebenda, S. 788
[17] Ebenda, S. 789
[18] Ebenda, S. 788f, siehe besonders die Fußnote 1, wo Stadthagen ausführlich die Lebensbedingungen beschrieb, wie sie in Preußen existierten. So lebten häufig in einer Kleinstwohnung aus einer Stube und einer Kammer acht bis zehn Personen, also Familienangehörige nebst Scharwerkern
[19] Ebenda, S. 790
[20] Ebenda
[21] MEW 4, S. 471f
[22] Stadthagen, Ausnahmerechte gegen die ländlichen Arbeiter in Deutschland, Neue Zeit, Band 18, Heft 13 (1900), S. 388-398
[23] Ebenda, S. 388
[24] Ebenda
[25] Ebenda, S. 389
[26] Ebenda, S. 390
[27] Ebenda
[28] Ebenda
[29] Ebenda, S. 392
[30] Ebenda, S.394
[31] Ebenda
[32] Ebenda, S. 395
[33] Ebenda, S. 396
[34] Ebenda, S. 397
[35] Ebenda, S. 398
[36] Stadthagen, Arbeiterrecht, Vorwort zur 3. Auflage; S. III
[37] Ebenda, S. IV
[38] Stadthagen, Die Novelle zur Gewerbeordnung vom Dezember 1908, Stuttgart 1909
[39] Stadthagen, Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch, Stuttgart 1900. Auch die vierte Auflage des „Arbeiterrechts“ enthält Stadthagens zweiten Ratgeber. Dieser erschien allerdings auch in zwei Auflagen einzeln bis 1904
[40] Ebenda, S. 2
[41] Ebenda, S. 3
[42] Rosa Luxemburg befand sich im Februar/März 1900 in Zürich, wo das Scheidungsverfahren, das Arthur Stadthagen und Ludwig Forrer (Winterthur) angestrengt hatten, eröffnet wurde. Doch das Bundesgericht der Schweiz erklärte das Land für unzuständig. Brief Rosa Luxemburgs an Joseph Gogowski vom 8. März 1900, Fußnote 1, Rosa Luxemburg, GB 6, S. 45
[43] Ebenda, S. 79
[44] Ebenda, S. 225
[45] Ebenda. S. 34f
[46] Ebenda, S. 35
[47] Ebenda, S. 40
[48] Ebenda, S. 43f
[49] Ebenda, S. 176
[50] Ebenda, S. 177f
[51] Ebenda, S. 179
[52] Ebenda, S. 197