Demokratisierung der Polizei?!
Freitag, 4. November 2011 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
Erfahrungen aus Demonstrationsbeobachtungen
von Elke Steven, Komitee für Grundrechte und Demokratie
Seit seiner Gründung vor dreißig Jahren hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie immer wieder Demonstrationsbeobachtungen organisiert. Bei der Brokdorf-Demonstration am 28.2.1981 fand eine erste Demonstrationsbeobachtung statt. Wir waren bei Castortransporten, beim Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm und vielen weiteren kleinen und großen Demonstrationen zugegen. Grundlage dieser Aktionsform ist die radikale Parteinahme für die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Prinzipiell sind die Inhalte der Demonstration dabei gleichgültig.
Mit Demonstrationsbeobachtungen treten wir im Streit um die Interpretation des Versammlungsrechts für die unbedingte Geltung des Grundrechts ein, das im Interesse und im Sinne der Bürger auszulegen ist. Die Eindrücke von vielen Personen an vielen Orten des Geschehens über den ganzen Zeitraum, die Auswertung der Vorgeschichte und der diversen Berichterstattungen lassen ein Gesamtbild entstehen, das meist von den polizeilichen Berichten erheblich abweicht.
Ich will hier, ausgehend von der Bedeutung des Versammlungsrechts, dessen Gefährdung auf mehreren Ebenen darstellen. Diese Gefährdung beginnt bei den Gesetzen selbst, geht über deren Interpretation und Verbiegung im Interesse der Exekutive weiter und endet dann erst bei den rechtswidrigen Übergriffen einzelner Polizeibeamter. Mein Schwerpunkt liegt auf den zuerst genannten Aspekten.
(1) Die Bedeutung des Versammlungsrechts – Der Souverän, der sich beteiligt und einmischt, hält die Politik lebendig.
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, verbunden mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), gehört zu den wenigen im Grundgesetz garantierten Möglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen, sich unmittelbar direkt öffentlich und politisch zu äußern. Es garantiert den Bürgern und Bürgerinnen eine der wenigen Möglichkeiten, Einfluss auf die politische Diskussion zu nehmen. Ansonsten blieben sie Stimmvieh für die Wahlen. Dieses Grundrecht schützt vor allem die Andersdenkenden, denn sie, nicht diejenigen, die mit dem Mainstream übereinstimmen, bedürfen diesen Schutzes.
Dazu gehört, dass sie selbst die Art der Öffentlichkeit thematisch und formal bestimmen. Darum gehört das Demonstrationsrecht zu den wenigen radikaldemokratischen Ansätzen und Korrektiven der repräsentativ allzu stark verdünnten Demokratie bundesdeutschen Musters.
Demonstrationen sind keine geordneten „Aufzüge“ auch wenn dieser Begriff noch immer verwandt wird. Sie leben von der Vielfältigkeit der Ausdrucksformen, die nicht zuletzt im Kampf um die mediale Wahrnehmung gewählt werden. So gibt es vielfältige legitime Aktionsformen. Auch Aktionen zivilen Ungehorsams, Aktionen in der Tradition des gewaltfreien Widerstands, Regelverletzungen, Blockaden, Besetzungen stehen unter dem Schutz des Grundrechts. Schon im Bericht über die Beobachtungen während der Brokdorf-Demonstration 1981 (veröffentlicht 1982, S. 3) schrieben wir: „Die Grenzen, die solchen Regelverletzungen zu setzen sind, können jeweils nur in sorgfältiger Rechtsgüterabwägung und Abwägung der betroffenen Interessen gefunden werden. Regelverletzungen als solche als Gewalt zu bezeichnen und strafrechtlich zu verfolgen, ist unzulässig.“
Demonstrationsbeobachtungen sind als Stellungnahme im politischen Streit um das Versammlungsrecht zu verstehen, um das Verständnis davon, was legitim ist, um die Interpretation der Vorgänge vor, während und nach Demonstrationen, um deren politische Bewertung.
Ohne die manchmal aufmüpfig-selbstbewusste Inanspruchnahme des Grundrechts wäre es 1985 wohl kaum zu dem grundlegenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gekommen, mit dem dieses das Grundrecht gegen all die politisch-polizeilichen Übergriffe zu schützen versuchte. Seitdem sollte jede Ordnungsbehörde wissen, dass dieses Grundrecht nicht einfach gegen andere Rechte, Bedürfnisse und Wünsche aufgerechnet werden kann. Für Auflagen oder gar Verbote gelten hohe Hürden. Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit müssen konkret und präzise nachgewiesen werden, um Verbote auszusprechen. Allgemeine Störungen im alltäglichen Ablauf müssen hingenommen werden. Tatsächlich aber sind die Auseinandersetzungen um die Wahrung des Grundrechts und die ordnungspolitischen Versuche, das Versammlungsrecht auszuhebeln, Alltag in der Bundesrepublik Deutschland geblieben.
(2) Gefährdungen auf mehreren Ebenen
zu 1: Gesetze und ihre gerichtliche Interpretation
Die Zweifel an der uneingeschränkten Geltung eines Grundrechts, dessen Inanspruchnahme fast zwangsläufig für Unruhe sorgt, kommen schon im Grundgesetz zum Ausdruck. Zwar haben „alle Deutschen“ „das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ (Art. 8, 1 GG), aber Absatz 2 lässt bereits Einschränkungen für „Versammlungen unter freiem Himmel“ zu. Eine solche Beschränkung beschloss das Parlament schon 1953 mit dem Versammlungsgesetz, das Demonstrationen als staatliches Sicherheitsrisiko vorstellt, die es zu kontrollieren und zu beschränken gilt. Allerdings beschränkt das Versammlungsgesetz das Grundrecht nicht mehr auf die Staatsangehörigen wie es das Grundgesetz noch tut.
Erst der Beschluss des BVerfG von 1985 (der Brokdorf-Beschluss) hat an der grundsätzlichen Einschätzung des Grundrechts etwas verändert.
Grundelemente des damaligen Beschlusses sind:
- Die Versammlungsfreiheit garantiert erst die Demokratie, sie ist das Lebenselexier der Demokratie: „Sie (Versammlungen) bieten … die Möglichkeit zur öffentlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest …; sie enthalten ein Stück ursprünglich ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den öffentlichen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren.“
- Die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen, über Inhalt und Form selbst zu bestimmen, ist das Grundelement, in dem sich diese Freiheit äußern muss.
- Der Leiter einer Versammlung ist nicht für alles verantwortlich, was während einer Demonstration geschieht, er kann nicht für all die vielfältigen Ausdrucksformen zur Rechenschaft gezogen werden.
- Einzelne Gewaltvorfälle rechtfertigen keine Auflösung der Versammlung insgesamt.
Und diese zentralen Grundelemente gilt es auch heute noch immer wieder neu zu verteidigen.
Das BVerfG ist auch danach dem Grundrecht immer wieder schützend zur Seite gesprungen. So auch mit dem 1995 erfolgten Sitzblockadeurteil. In einigen anderen Fällen und gerade in Eilentscheidungen blieb leider das Grundrecht manchmal auf der Strecke. So im Wendland und beim Protest in Heiligendamm. Das weiträumige Versammlungsverbot anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm wurde zweifelnd bestätigt – weil das Gericht der Desinformationspolitik der Polizei folgte. Leider bestätigt das neueste Urteil zur Sitzblockade gegen den Irakkrieg am Frankfurter Flughafen (1 BvR 388/05) die „zweite Reihe-Rechtsprechung“ des BGH und ebnet damit den Weg, Sitzblockaden wieder als Gewalt werten zu können.
Seit der Föderalismusreform von 2006 versuchen manche Länder mit eigenen Versammlungsgesetzen das Grundrecht zu beschneiden. Zwar hat das BVerfG Teile des ersten bayerischen Versammlungsgesetzes als grundrechtswidrig eingestuft, aber auch das neue bayerische Gesetz, wie auch die Gesetze in Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt weisen grundrechtswidrige Tendenzen auf. Die Gesetze sind gespickt mit Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen, offenen Formulierungen, die der Polizei eine Handhabe nach eigenem Gutdünken ermöglichen. Das aber widerspricht dem Gebot der Rechtssicherheit. Die Fragen was ist „vermummt“? was darf ich wohin mitnehmen? Wodurch entsteht eine einschüchternde Wirkung? sind interpretationsoffen und werden somit von der Polizei gemäß ihrer Situationseinschätzung ausgelegt.
Zu 2: Auslegung der Gesetze durch Versammlungsbehörde und Polizei
- Schon vor Beginn jeder potentiell kontroversen Demonstration beginnt der Streit um die Auslegung des Grundrechts. Weit im Vorfeld wird oft schon behauptet, Gewalttätigkeiten seien bei diesem oder jenem Protest zu erwarten. Damit wird der Protest diskreditiert, bevor er überhaupt stattfinden kann. Bürger werden von der Teilnahme abgeschreckt.
- Verbote von Demonstrationen
Oft leitet die Versammlungsbehörde ihre einschränkende Verfügung mit der Feststellung ein, dass sie das Grundrecht grundsätzlich schütze, im konkreten Fall jedoch Verbote notwendig seien, die Grundrechte außer Kraft gesetzt werden müssten. Als Beispiel sei hier die Allgemeinverfügung zum Castortransport 2010 genannt:
Nach dem Bezug auf das BVerfG folgen nicht tatsächliche Anhaltspunkte, die auf einen insgesamt unfriedlichen Verlauf hinweisen, sondern die Behörde zählt in ihrer 27-seitigen Verfügung eine Unmenge von Vorfällen auf, die sich im Verlauf der letzten 15 Jahre ereignet haben. Dass der Protest breit getragen wird, dass die Initiativen sich bemühen, Demonstrierende zu mobilisieren, dass sie dies auch überregional tun und Kinospots ausstrahlen, dass sie eine Menschenkette außerhalb der Verbotszone angekündigt haben – das alles wird zur Begründung des Verbots aufgeführt.
Im Teil über die „bisherigen Erfahrungen“ werden viele Demonstrationen und auch Sitzblockaden aufgeführt. Die Tatsache, dass daran auch Bundestagsabgeordnete teilgenommen haben, wird erwähnt, obwohl sich dies wohl kaum als Beleg für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (und Ordnung) lesen lässt.
Wie man sich denken kann, wird in der Allgemeinverfügung nicht erwähnt, wie oft die Polizei im Verlauf dieser Jahre unverhältnismäßig und rechtswidrig Gewalt angewendet hat.
- Auflagen für Demonstrationen
Immer wieder greifen die Ordnungsbehörden zu dem Mittel der Einschränkung des Versammlungsrechts durch Auflagen. Detailliert wird festgelegt, was alles bei der jeweiligen Versammlung verboten ist, wie sich die Teilnehmenden zu verhalten haben, was der Versammlungsleiter durchsetzen muss. Solche Auflagen verschaffen der Polizei vor allem Gründe, in die Versammlungen nach eigenem Gutdünken einzugreifen. Sie hebeln das Selbstbestimmungsrecht über den Verlauf der Versammlungen aus.
Sie dürften nur erlassen werden, wenn Grund zur Annahme besteht, dass Gefahren für die öffentliche Sicherheit (und Ordnung – was ein völlig unspezifischer Begriff ist) von einer Versammlung ausgehen. Sie sollen Versammlungen ermöglichen, wenn anderenfalls habhafte Gründe für deren Verbot bestünden. Sie sollen also das Recht auf Versammlungsfreiheit schützen.
In der Praxis werden solche Auflagen meist ohne solche rechtfertigenden Gründe erlassen. Der Bayerische Gerichtshof München urteilte 2007, dass 21 von 25 in Mittenwald 2006 erlassenen Auflagen gesetzwidrig seien. Das hindert die Ordnungsbehörden allerdings nicht, bei nächster Gelegenheit wieder Auflagen zu erlassen.
Im Jahr 2008 wurde deutlich, dass sie darüber hinaus ein willkommenes Mittel sind, rechtlich gegen Versammlungsleiter vorzugehen. Der Brokdorf-Beschluss des BVerfG 1985 ging auch auf die Auseinandersetzung um Rechte und Pflichten des Versammlungsleiters zurück. Das Verfassungsgericht machte deutlich, dass nicht eine Person die Verantwortung für das vielfältige Geschehen bei einer großen Demonstration übernehmen kann, zu der viele verschiedene Gruppen aufrufen. Es forderte, den Schutz des Versammlungsrechts weit auszulegen. Störungen von Einzelnen oder einzelnen Gruppen seien zu beheben, ohne die gesamte Versammlung aufzulösen.
Mit der Erteilung von Auflagen versuchen die Ordnungsbehörden nun manchmal, diese orientierende Rechtsprechung auszuhebeln. Versammlungsleiter sollen dafür verantwortlich gemacht werden, dass alle Auflagen – von der Länge der Transparentstangen bis zur Geh-Geschwindigkeit der Teilnehmenden – eingehalten werden. Anderenfalls wären sie verpflichtet, die Versammlung aufzulösen. Das, was die Polizei nicht darf, nämlich die Versammlung aus nichtigen Gründen auflösen, soll dann der Versammlungsleiter tun. In mindestens vier Städten standen im Jahr 2008 Versammlungsleiter vor Gericht – in Karlsruhe, München, Rostock und Friedrichshafen.
- Schikanen beim Zugang zu Demonstrationen
Immer wieder wird mit Durchsuchungen und Personenkontrollen die freie, unbehinderte und unbeobachtete Teilnahme an Demonstrationen verhindert.
Am 12. Mai 2010 entschied das BVerfG (1BvR2636/04) jedoch, dass eine Auflage, die die Durchsuchung aller Teilnehmer vor einer Versammlung vorschreibt, rechtswidrig ist. Auch die Beschränkung der Art und Weise der Durchführung einer Versammlung stelle einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Eine solche Auflage behindere den freien Zugang und sei geeignet, eine einschüchternde und diskriminierende Wirkung zu entfalten. Eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit sei nur möglich, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet sei. Eine Gefahrenprognose müsse „konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte“ enthalten. „Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen“ reichten nicht aus.
Die Erfahrung mit dem Brokdorf-Beschluss zeigt allerdings, dass Versammlungsbehörden kreativ in der Erstellung von Begründungen sind; die wendländische Allgemeinverfügung hat dies mal wieder gezeigt.
- enge Begleitung von Demonstrationen
Immer wieder werden Demonstrationen eng von der Polizei begleitet, so dass auch von einem Wanderkessel gesprochen werden kann. Dies verhindert die Ausdrucksmöglichkeiten der Demonstrierenden und die Ansprache der Öffentlichkeit
- willkürliche Eingriffe gemäß der hoheitlichen Definition von angemessenem Verhalten
Angeblich Vermummte werden herausgegriffen, aus der Demonstration heraus werden BürgerInnen festgenommen, Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten dringen mitten in die Versammlungen hinein …
Die in die Versammlungen eindringenden Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten schüchtern sowohl aufgrund der Ausrüstung als auch erst recht aufgrund ihres Auftretens Demonstrierende ein. Sie hebeln das Selbstbestimmungsrecht der Teilnehmenden aus. Die Polizei hat aber in den Versammlungen „normalerweise“ nichts zu suchen.
- Videoaufzeichnungen und Drohnen
Videoaufzeichnungen sind nur angesichts von „tatsächlichen Anhaltspunkten“ für „erhebliche Gefahren“ für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vom Versammlungsgesetz vorgesehen. Längst sind sie aber zum selbstverständlichen polizeilichen Eingriff geworden. Auch hier haben die Gerichte in den letzten Jahren Grenzen aufgezeigt. So wichtig dies ist, so sehr ist jedoch zu befürchten, dass wiederum nur die Begründungen kreativer und länger werden.
Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Bayerischen Versammlungsgesetz die anlasslose Aufzeichnung des gesamten Versammlungsgeschehens als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht gewertet. Am 5. Juli 2010 hat das Verwaltungsgericht Berlin festgestellt (1 K 905.09), dass die Videoüberwachung einer Demonstration gegen die Nutzung der Atomenergie im August 2009 in Berlin rechtswidrig war. Auch wenn „nur“ Übersichtsaufnahmen angefertigt und diese nicht aufgezeichnet werden, sei dies zum einen für den Bürger nicht erkennbar. Des weiteren sei ein gezieltes heranzoomen von Personen jederzeit möglich, so dass „durch das Gefühl des Beobachtetseins“ die Teilnehmenden „eingeschüchtert“ oder gar von der Teilnahme abgehalten werden könnten. „Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“ Entsprechend entschied auch der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts NRW am 23. November 2010 (5 A 2288/09).
Im Wendland wurden dagegen im Herbst 2010 sogar Drohnen eingesetzt, mit deren Hilfe Videoaufnahmen erstellt wurden.
- Platzverweise:
Dass Bürgern und Bürgerinnen nicht aufgrund ihres Aussehens Platzverweise erteilt oder sie in Gewahrsam genommen werden dürfen, ist auch schon anlässlich der Chaostage in Hannover gerichtlich festgestellt worden. Dennoch geschieht es immer wieder. So wurden fast alle Platzverweise im Umfeld der Proteste gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm, die angefochten wurden, für rechtswidrig erklärt. Wie insgesamt das Resümee der Prozessbeobachtungsgruppe Rostock erschreckend ausfällt: „Nur knapp 3% der Ermittlungsverfahren hielten juristischer Überprüfung stand.“
- Einkesselungen:
Seit der Entscheidung zum „Hamburger Kessel“ von 1986 ist gerichtlich geklärt, dass die polizeiliche Einkesselung von Demonstrierenden rechtswidrig ist. Immerhin stellte das Gericht Schadenersatzansprüche für jeden einzelnen der 800 Demonstrierenden fest.
Trotzdem geschieht dies faktisch immer wieder – und nur selten gelingen Schadenersatzklagen, deren finanzielle Höhe jedoch keine ausreichende Abschreckungswirkung entfaltet.
Einkesselungen von „Gegendemonstrationen“, die sich gegen NPD, Kameradschaften etc. und ihre Ideologie richten, sind wieder zu Standardmaßnahmen geworden, die sich immer wieder als rechtswidrig erweisen. Dies gilt nach einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen für die Einkesselung einer Gruppe antifaschistischer Jugendlicher und Erwachsener in Dortmund im Jahr 2000 ebenso, wie für die Einkesselung von DemonstrantInnen in Köln, die im September 2008 gegen den „Antiislamisierungsprozess“ der „Bürgerbewegung pro NRW“ protestiert hatten. Ähnlich fiel auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen im November 2010 aus, das die präventive Einkesselung von 300 DemonstrantInnen am 1. Mai 2009 in Ulm für rechtswidrig erklärte. Die Erfahrungen im Wendland lassen sich auch so zusammenfassen: So waren der Karwitzer Kessel 1996, der Langendorfer Kessel 1997, die Festnahmen in Aljarn und Hitzacker 2001, der Kessel auf dem Gelände der freien Schule in Hitzacker 2002, die Einkesselung in Grippel und die des Dorfes Laase 2003 rechtswidrig.
- Polizeibeamte, als verdeckte Ermittler in szenetypischer Kleidung
Verdeckte Ermittler, die in politische Bündnisse und in Demonstrationen eindringen, gefährden die Demokratie von Grund auf. Die Vertreter der Organe der legitimen Gewalt werden unkenntlich, befördern das Misstrauen der Bürger untereinander und lassen ein selbstbestimmtes Handeln nicht zu. Sie fungieren nicht nur als Spitzel, sie verletzen die soziale Integrität von Gruppen oder ergänzen öffentliche Aktionen durch staatlich geschützte Machenschaften von staatlich bezahlten Beamten, die man nicht sieht. Ihr Verhalten erzeugt Misstrauen und Aggressionen, die sich letztlich gegen die Friedsamkeit von Demonstrationen auswirken.
- Polizei außer Kontrolle?
Als Beispiel dafür, wie Polizei im Zweifel mit Rechtsprechung umgeht, sei hier ein Ereignis beim Antirassismus- und Klima-Camp 2008 in Hamburg geschildert. Die Anmelder hatten erfolgreich gegen Auflagen geklagt. Die Versammlungsbehörde wollte eine Schlusskundgebung weder direkt vor dem Flughafen Hamburg noch über die geplante Zeit von sechs Stunden zulassen. Das Verwaltungsgericht bestätigte jedoch, dass die Demonstrierenden auch über die zeitliche Länge ihres Protestes entscheiden können. Die Abschlusskundgebung „Für grenzenlose Bewegungsfreiheit – Keine Abschiebungen vom Flughafen Hamburg“ dürfe in der Zeit von 13 bis 19 Uhr stattfinden. Die Polizei setzte ihre abweichende Auffassung unmittelbar und ohne Rechtsschutzmöglichkeiten durch. Der Gesamteinsatzleiter erteilte, ohne selbst vor Ort zu sein, vom Polizeipräsidium aus die Anweisung zur Auflösung der Demonstration zu dem Zeitpunkt, zu dem die Versammlungsbehörde das Ende der Demonstration gewollt hatte.
- Exzessive Gewaltmittel
Immer wieder werden die Gewaltmittel der Polizei – Schlagstock, Wasserwerfer, Hunde, Gas – unverhältnismäßig gegen Demonstrierende eingesetzt. So sind beim Castortransport 2010 über 2190 Kartuschen mit synthetischem Pfefferspray von der Bundespolizei gegen diejenigen eingesetzt worden, die unter dem Namen „Castor? Schottern!“ in die Nähe der Gleisanlage kamen. Dies geschah auch außerhalb der Demonstrationsverbotszone und ohne vorherige Auflösung der Versammlung.
- Öffentlichkeitsarbeit der Polizei
Diesen Aspekt möchte ich betonen, da es gerade im Kontext von Großereignissen inzwischen üblich geworden ist, dass die Polizei eine eigene Öffentlichkeitsarbeit betreibt, die an den Prinzipien des public relation managements orientiert ist. Die Aufgabe der Polizei ist es jedoch, die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren, nicht aber die Arbeit der Polizei zu „verkaufen“ und die Hoheit über die öffentliche Berichterstattung zu erobern. Im Kontext des G 8-Gipfels hat dieses Konzept fatale Folgen für die Öffentlichkeit und sogar für das höchste Gericht gehabt.
Die falschen Informationen über die Ereignisse am Samstag und Montag und die Lügen über verletzte Polizeibeamte wurden von Journalisten und Bürgern erst nach der Veröffentlichung aufgedeckt. Und beim Verfassungsgericht waren diese Lügen noch Grundlage der Eilentscheidung, die das Verbot nicht aufhob.
Ein Jahr später gab der damalige Polizeisprecher (Axel Falkenberg) öffentlich zu, oft falsch informiert zu haben – weil er falsch informiert war. „Die Öffentlichkeit fühlte sich von mir oft falsch informiert – und zwar zu Recht“ (die tageszeitung, 6. Juni 2008). Dass er den Einsatz von vermummten Zivilpolizisten im Outfit von Autonomen tagelang geleugnet hat, kommentiert er folgendermaßen: „Es war eine Peinlichkeit hoch drei, so vorgeführt zu werden“ (dies.).
zu 3: rechtswidrige Übergriffen einzelner Beamter
- Ganze Gruppen können zum harten Durchgreifen von ihrer Führung aufgefordert werden, es können aber auch einzelne sein, die mit Polizeigriffen und Knüppeln, schlagend und tretend Demonstrierende verletzen. Über die fehlende Kennzeichnung von Polizeibeamten werden wir später hier mehr hören. Eine Kennzeichnung würde eine Verfolgung solcher rechtswidrigen Übergriffe zumindest etwas erleichtern.
Angesichts der eminent öffentlichen Aufgabe der Polizei und ihrer, im Einsatz immer prekären, Grundrechte gefährdenden Gewaltmittel stellt der Mangel an verantwortlicher Polizei einen grundrechtlich-demokratisch nicht haltbaren Skandal dar. Damit wird ein falscher, bürgerwidriger geschlossener Gruppengeist erzeugt, statt die PolizeibeamtInnen für ihre schwierige Aufgabe dauernder Güterabwägung unter dem Blickwinkel des Gewalteinsatzes zureichend zu schulen.
Der Streit um das Recht auf Versammlungsfreiheit wird letztlich auf der Straße ausgetragen. Das Recht ist immer neu bedroht. Es bedarf der Menschen, die immer neue Formen des provozierenden Eintretens für Menschenrechte und Demokratie entwickeln, die sich das Recht nicht nehmen lassen, sich „ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“.
Unterstützt werden muss dies durch eine Politik, die sich ohne wenn und aber zum Grundrecht bekennt und die die Polizei diese Aufgabe lehrt.
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Der Vortrag wurde auf einer fachpolitischen Konferenz im Landtag NRW am 18. Juni 2011 gehalten