Dogan Akhanli ist frei!
Donnerstag, 9. Dezember 2010 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
von Ursula Mende
Der Schriftsteller und deutsche Staatsangehörige Dogan Akhanli wurde im August 2010 bei seiner Einreise in die Türkei verhaftet. Ihm ist die Beteiligung an einem Raubüberfall im Jahr 1989 vorgeworfen worden, bei dem auch ein Mensch getötet worden ist. Akhanli hat Verbindungen zu diesem Vorfall stets bestritten. Maßgebliche belastende Zeugenaussagen sind unter Folter erfolgt und von den Zeugen zurückgenommen worden.
Akhanli lebt nach Gefängnis, Folter und Flucht aus der Türkei seit Anfang der 90-er Jahre als anerkannter politisch Verfolgter in der Bundesrepublik und wurde 1998 vom türkischen Staat ausgebürgert. In seinem schriftstellerischen Werk hat er sich insbesondere für eine offene geschichtliche Aufarbeitung, insbesondere der Genozide des 20. Jahrhunderts (einschließlich des Völkermords an den Armenier) und für die Unteilbarkeit der Menschenrechte engagiert. Seine Projekte wurden u.a. von der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert und vom Bündnis für Demokratie und Toleranz ausgezeichnet. 2009 erhielt er den Literaturpreis der Zeitung „Hürriyet“. In deutscher Sprache ist sein Roman „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ im Oktober 2010 in 2. Auflage im österreichischen kitab-Verlag erschienen.
Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen hat sich unmittelbar nach der Inhaftierung im August an den Minister des Auswärtigen Amtes Dr. Guido Westerwelle und an den türkischen Botschafter in Berlin gewandt, gegen seine Inhaftierung protestiert und die sofortige Freilassung gefordert. Als einer der Erstunterzeichner hat die VDJ auch den Aufruf „Freiheit und Gerechtigkeit für Dogan Akhanli“ unterstützt. Seit dem 08.12.2010 ist Dogan Akhanli wieder frei.
Ursula Mende ist Bundesgeschäftsführerin der VDJ
Dogan Akhanli am 8.12. in Istanbul vor Gericht
von Jürgen Crummenerl, Rechtsanwalt in Köln
Auf dem Platz vor dem Gericht 10.30 Uhr: Fernsehkameras, Fotoapparate, Mikrofone: Pressekonferenz der Internationalen Delegation mit Günter Wallraff.
Hinter uns Spanische Reiter, dahinter schwer bewaffnete Militär-Polizei und Staatspolizei, dahinter vier große Gefangenentransporter, die die Angeklagten zu ihren Prozessen bringen. Das ist das Bild, das die Situation prägt.
Vor dem Gericht dann ein schmaler Gang, eingezäunt wie ein Käfig, durch den wir zur ersten Passkontrolle gehen und Abtasten mit Suchgerät. Umgeben von bewaffnetem Militär.
Dann zum Gerichtsgebäude: wieder durch eine Schleuse wie am Flughafen.
Dann kommen wir in einen relativ kleinen niedrigen Raum ohne Fenster, von dem drei Gerichtssäle abgehen und ein Anwaltszimmer. Hier finden nacheinander zahlreiche Prozesse statt mit vielen Besuchern. Sie alle drängen sich zusammengepfercht vor den Türen, durch die immer nur Zuschauer reingelassen werden, die zu jeweiligen Angeklagten gehören. Es ist eng, schlechte Luft, man schwitzt und versucht durchzuhalten. Wenn ein Verfahren zuende ist, müssen alle Zuschauer und der Angeklagte den Saal verlassen. Das Gericht berät im Saal. Dann öffnet sich plötzlich die Tür, der Gerichtsdiener überreicht einem Anwalt ein Blatt Papier, auf dem die Entscheidung steht. Keine Verkündung vor dem Angeklagten oder der Öffentlichkeit.
Nach ca 1 ½ Stunden Wartezeit können wir endlich in den Saal.
Vorne gegenüber dem Gericht aus drei Richtern sitzt Dogan Akhanli eskortiert von zwei bewaffneten Militär-Polizisten. Er darf nicht bei seinen Verteidigern sitzen. Links neben den Richtern etwas abgesetzt sitzt der Staatsanwalt auf gleicher Höhen. Unten auf der linken Seite sitzen zwei Verteidiger und eine Verteidigerin.
An der Wand hinter dem Gericht ist oben ein übergroßer Kopf von Kemal Atatürk. Darunter steht „ADALET DEVLETIK TEMELIDIR“ (Die Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates).
Im Saal sind ca 50 Zuschauer sitzend auf Bänken und weitere etwa 50 stehen oder sitzen auf der Erde. Zunächst sollen alle, die nicht auf Bänken sitzen, den Saal verlassen, dann aber wird das vom Vorsitzenden nicht weiter verfolgt. Dogan ist offenbar gerührt, so viele Verwandte und Freunde wiederzusehen.
Ein Verteidiger von Dogan verliest zu Beginn eine Erklärung seines Mandanten: Wegen des Todes seines Vaters vor wenigen Tagen ist er nicht in der Lage, zum Prozess und zur Anklage Stellung zu nehmen.
Von Anfang an während des gesamten Prozesses sind die geladenen Zeugen im Raum anwesend. Sie hören die Verlesung ihrer eigenen Aussagen, Polizeiberichte, Vermerke – es wird viel aus den Akten vom Vorsitzenden verlesen. Der Vorsitzende ist eine älterer Mann, der Autorität und Macht ausstrahlt.
Die Verteidiger bringen massiv ihre Einwände gegen das Verfahren vor, rechtsstaatliche Bedenken, Verfahrensfehler, Verstöße gegen europäisches Recht.
Nach vielem Verlesen (auch Aussagen der Zeugen, die vorgebracht haben, gefoltert worden zu sein oder Aussagen „untergeschoben“ bekommen zu haben) werden dann die Zeugen vernommen, die Dogan voll entlasten.
Nach den Plädoyers der Verteidigung und danach des Staatsanwaltes wieder eine Unterbrechung, alle Zuschauer und der Angeklagte müssen den Saal verlassen.
Eine halbe Stunde vergeht, es wird berichtet, dass Dogan in Handschellen zum Gefangenenbus gebracht wird.
Erst danach erscheint der Justizbesamte mit dem Blatt: Dogan Akhanli wird aus der Haft entlassen, der Prozess wird am 9.3.2011 fortgesetzt.
Dogan erfährt – wie er später erzählt – nur, dass der Prozess fortgesetzt wird. Er ist erschüttert und resigniert während der fast 2-stündigen Fahrt in die Haftanstalt. Erst dort wird ihm mitgeteilt, dass er aus der Haft entlassen wird.
Jürgen Crummenerl gehörte zur Internationalen Delegation, die den Prozess gegen Dogan Akhanli in Istanbul beobachtet hat.