Fundamentaler Angriff auf das Recht der Verteidigung und auf den Anwaltsberuf
Donnerstag, 9. August 2012 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
Prozessbeobachtung in Istanbul 16. bis 18. Juli 2012
von Simone Rebmann
Im Verfahren vor einem Spezialgericht gegen die 22. November 2011 festgenommenen 41 Anwält_innen, deren Personal sowie einen Journalisten, denen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen wird, kam es nach drei Verhandlungstagen lediglich zu einem Hafturteil: 27 Angeklagte bleiben ohne Angabe von Haftgründen weiterhin in Untersuchungshaft, 9 Angeklagte wurden frei gelassen (5 Anwält_innen wurden vorgängig frei gelassen).
Die ELDH / DJS waren zusammen mit 18 internationalen, europäischen und kanadischen Organisationen vor Ort zur Prozessbeobachtung. Außerhalb des Gerichtsgebäudes, dem größten seinesgleichen in Europa, säumten Hunderschaften von Polizisten und Militärangehörigen, z. T. mit dem Finger auf dem Abzug des geladenen Maschinengewehrs und dutzende Wasserwerfer-Fahrzeuge das abgesperrte Gelände. Jeden Morgen protestierten türkische Anwält_innen in ihren traditionellen Roben vor dem Gerichtsgebäude, am letzten Prozesstag waren rund sechzig weißgekleidete Friedensfrauen vor dem Gebäude anzutreffen.
Der Prozess wurde in einem Saal durchgeführt, der lediglich 200 Personen Platz bietet. Anwesend waren durchwegs über achthundert Personen, mit über 400 involvierten Anwält_innen, 46 Angeklagten, deren Angehörigen und rund 45 internationalen Prozessbeobachtenden war der Andrang in den Saal groß. Klimaanlage und Lüftung wurden nicht in Betrieb genommen, Hitze und Sauerstoffmangel waren unerträglich. Es konnten jeweils nicht alle Verteidiger_innen und Anklagte in den Gerichtssaal gelangen, so wurde das Mikrofon auch mal vor die Tür gereicht, damit sie sich zur Sache äußern konnten. Konnten die Beteiligten in dem Raum gelangen, mussten sie zum Teil auf dem Boden sitzen. Die Verteidigung beantragte, den Saal zu wechseln, was der Vorsitzende ablehnte.
Die Verteidigung stellte vorab die Legitimation des Gerichts in Frage, ein Sondergericht für besonders schwere Straftaten, dessen gesetzliche Grundlage zwei Wochen vor dem Prozess abgeschafft wurde. Sie beantragte, dass der Richter, wie im türkischen Recht vorgesehen, die Frage der Legitimation des befassten Gerichts dem Verfassungsgericht unterbreite. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.
Die Verteidigung verlangte weiter, dass die Angeklagten kurdisch sprechen dürfen sowie eine entsprechende Übersetzung. Sie begründete den Antrag damit, dass eine Sprache, die von 20 Mio. Menschen gesprochen werde, nicht weiter ignoriert werden könne und stütze sich dabei u.a. auf Art. 38 Abs. 5 des Vertrags von Lausanne, dem türkischen Staatsgründungsvertrag, wonach „Personen türkischer Nationalität mit nicht türkischer Sprache Erleichterungen für den mündlichen Gebrauch ihrer eigenen Sprache vor Gericht gegeben werden sollen“. Der Richter lehnte diesen Antrag ab, auch einen entsprechenden Eintrag im Protokoll, wenn ein Angeklagter in Kurdisch antwortete. Statt dessen gab der Richter zu Protokoll: „Der Angeklagte antwortet in nicht verständlichen Lauten“.
In ihren Plädoyers führten die Verteidiger_innen an, Verhaftungen von Anwält_innen in einer derart großen Zahl seien in der Weltgeschichte noch nie dagewesen und bedeuteten einen fundamentalern Angriff auf das Recht der Verteidigung. Zur Wahrung der Unabhängigkeit von Anwält_innen sei es unabdingbar, dass die Verteidigung von beiden Seiten frei gewählt werden könne, wie es auch im türkischen Recht festgeschrieben sei. Auch das Recht auf freie Berufsausübung und das (türkische) Anwaltsgeheimnis seien verletzt. In der 894 Seiten langen Anklageschrift sei die normale Berufsausübung der angeklagten Anwält_innen als Terrorakt geschildert. Jede angeklagte Person habe aber nur die Seiten einsehen können, die sie betreffe, obwohl den Angeklagten die Verbindung in einer terroristischen Organisation vorgeworfen werde. Normale Fallbesprechungen unter den Anwaltskollegen in den Kanzleien seien als Austausch und Sitzungen von Terrororganisationen und ihren Mitgliedern dargestellt. Besuche der Anwält_innen bei Klient_innen im Gefängnis seien aufgezeichnet und als Beweise für Terrorakte verwendet worden, obwohl das türkische Recht den Verkehr des Anwalts mit dem Klienten in und außerhalb von Gefängnissen gewährleiste. Die Beweise seien illegal beschafft worden, in dem bei den auch des Nachts durchgeführten Haus- und Kanzleidurchsuchungen bei den Anwält_innen, die nach türkischem Recht verboten seien, die seit 2001 erforderliche Erlaubnis des Justizministers und die Anwesenheit einer Vertreterin des Anwaltsverbandes gefehlt hätten. Auf diese Vorwürfe entgegnete der Vorsitzende Richter, dass „der Stil der Beweiserhebungen“ nicht Gegenstand der Verfahrens sei.
Das Protokoll wurde unter Beanstandung der Verteidigung freihändig verlesen, der Richter sagte daraufhin, es werde ja alles auf Film aufgezeichnet. Die Verteidigung monierte, dass sie diese Aufnahmen nicht erhalten könnten und deshalb keine Kenntnis über den Inhalt erhielten. Gemäß türkischem Prozessrecht dürfe der Richter keinen Einfluss auf das Protokoll nehmen. Auch diesen Einwand lehnte der Richter ab.
Die Verfahrensleitung war unwirsch mit der Verteidigung, wies die Beteiligten und die Zuschauenden wie ein Polizeihelfer auf ihre Plätze, unterbrach die Angeklagten und die Verteidigung oft, obwohl dies nach türkischem Prozessrecht nicht zulässig ist. Auch erlaubte der Richter sich mehrmals zu bemerken: „Ich muss ja anständig (zu den Angeklagten und den Verteidiger_innen) sein, es sind so viele ausländische Beobachter_innen anwesend…“. Ernteten seine (un-)prozessualen Handlungen den Protest der Verteidigung, schmiss er gar seine Robe hin und verließ er mitunter den Saal, er „mache so nicht mehr mit…“. Wäre der Gerichtsprozess eine Viehversteigerung gewesen, – Ähnlichkeiten sind vorhanden, hätte es Grund zum Lachen gegeben. Derselbe Gerichtspräsident ist aber zugleich Richter im materiellen Verfahren, im Haftprüfungsverfahren, hat die Haus- und Kanzleiuntersuchungen und Untersuchungshaft angeordnet.
Der beobachtete Prozess war weit entfernt von einem fairen Verfahren, die fehlende Legitimation der Gerichts, der beschränkte Zugang in den Gerichtssaal, der Sauerstoffmangel und Hitze im Gerichtssaal sowie die willfährige Verfahrensleitung gaben den beobachtenden Organisationen Anlass zur Beanstandung und zur Verlesung einer entsprechenden Erklärung unmittelbar nach Verkündung des Hafturteils, nachzulesen unter: http://www.eldh.eu/de/publikationen/publikation/statement-trial-observation-istanbul-46-lawyers-indicted-128/
Der Prozess geht am 6. November 2012 in Silivri weiter, in einem Gefängnisgebäude 60 km von Istanbul entfernt.
Bern, 24. Juli 2012, Simone Rebmann, Juristin