Gegen Koalitionsrecht und Arbeiterschutz. Arthur Stadthagen über Ausnahmegesetze und Privilegien 1913. Eine Analyse bürgerlicher Interessenpolitik gestern und heute
Montag, 19. November 2012 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
von Holger Czitrich-Stahl
Vor 100 Jahren veröffentlichte der Rechts- und Sozialexperte der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Arthur Stadthagen (1857-1917) in Karl Kautskys Wochenschrift „Die Neue Zeit“ einen Aufsatz mit dem Titel „Gegen Koalitionsrecht und Arbeiterschutz“. Er erschien in Heft 17 des Jahrgangs 1913[1] Mögen die von Stadthagen angeführten Inhalte zwar der Vergangenheit angehören, so deckte er dennoch in seiner Analyse zentrale Mechanismen auf, mit denen die Konservativen und Privilegierten immer wieder versuchten, geltendes Recht einseitig zum eigenen Nutzen zur Anwendung zu bringen bzw. durch konkurrierende Gesetzgebungen Ausnahmerechte im eigenen Interesse zu schaffen. Die Auseinandersetzungen um die Abgabenbefreiung großer Konzerne im Rahmen des heutigen „Erneuerbare-Energien-Gesetzes“ (EEG) und die damit verbundene Umverteilung zu Lasten der Normalverbraucher lassen erkennen, dass sich im Grunde nicht allzu viel geändert hat. Die in den Grundauffassungen und Verfassungen bürgerlicher Gesellschaften garantierte Rechtsgleichheit der Individuen, kodifiziert in den Grundrechten, wird im Bereich kollektiver Rechte oder in wichtigen Gesetzesvorschriften konterkariert, so dass die Mächtigen und Besitzenden ihre Interessen zuallererst gesichert wissen dürfen. Neben der Energieabgabe sollten wir hier ruhig auch einmal an die „Mövenpick-Steuer“, also für die von der FDP durchgesetzte Senkung der Umsatzsteuer für das Hotel.- und Beherbergungsgewerbe im „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ vom Dezember 2009[2] oder an diverse steuerliche Begünstigungen wie die abgeschaffte Vermögenssteuer bzw. an die handzahme Erbschaftssteuer[3] denken.
Doch zurück zum historischen Vorbild. Arthur Stadthagen setzte sich vor einhundert Jahren mit dem Kampf um ein für die Arbeiterklasse hinreichendes Koalitionsrecht auseinander. Ausgehend von den Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit dem schrankenlosen „Manchester-Kapitalismus“[4] in den industrialisierten Staaten des 19. Jahrhunderts schrieb er über das Prinzip des von ihm mitentwickelten Arbeitsrechts: „Arbeiterschutzgesetze sind für das industrielle und ländliche Proletariat erforderlich, um zu verhindern, daß die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse, die Gleichberechtigung und die Gesundheit der Arbeiter beeinträchtigt werden.“ (Stadthagen, S. 585) Übertragen auf die Gegenwart weist dieses Postulat bereits damit nicht nur auf ökonomisch, sondern auch rechtlich zwingende Arbeiterschutzmaßnahmen hin: Will man die Befriedigung der Bedürfnisse der abhängig Beschäftigten sichern, so führt kein Weg an einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn vorbei. Ebenso wenig entspricht eine Spaltung von Belegschaften in besser bezahlte Stammbelegschaften einerseits und „Niedriglöhnern“ von Leiharbeitsfirmen andererseits dem von Stadthagen formulierten, damals völlig unstrittigen sozialdemokratischen Rechtsverständnis der Gleichberechtigung, hier allein schon innerhalb der Belegschaft eines Betriebes. Unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes sind ebenfalls Zweifel an der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre erlaubt, verlängert dieses Gesetz doch entweder die Lebensarbeitszeit oder die Dauer der Arbeitslosigkeit und mindert nach den bestehenden Bestimmungen zugleich die wirtschaftliche Bedürfnisbefriedigung. Die Sozialdemokratie hatte, auch diesen Hinweis auf die Wandlung ihrer sozialpolitischen Grundpositionen muss sie ertragen, noch vor rund 100 Jahren die Rente mit 60 Lebensjahren gefordert. Heute denkt man im Frankreich des sozialistischen Präsidenten Hollande über deren Wiedereinführung nach.[5] Auch zahlreiche Bestimmungen und Ausführungsvorschriften der „Hartz-Gesetze“ dürften kaum den sozialdemokratischen Rechtsgrundsätzen und den Vorstellungen von sozialer Demokratie von 1913 genügen.
Die damalige Rechtslage bewertend kam Stadthagen zu einem vernichtenden Urteil über die Realität des Gleichheitsversprechens der bürgerlichen Gesellschaft: „Dringend erforderlich ist ein einheitliches, alle Arbeiterkategorien umfassendes Arbeiterrecht. Buntscheckigste Mannigfaltigkeit herrscht auf diesem Gebiet. Die verschiedenartigsten Gesetze sind für die Arbeitsverhältnisse maßgebend. Voneinander abweichende Reichsgesetze regeln die Rechte der Gewerbegehilfen, der Binnenschiffer, der Privatangestellten und der Landarbeiter. Daneben bestehen landesgesetzliche Vorschriften für Bergarbeiter und eine schier unübersehbare Fülle von Gesindeordnungen in den 26 verschiedenen deutschen Vaterländern. Die winzigen, für gewerbliche Arbeiter und Handlungsgehilfen errungenen Arbeiterschutzvorschriften sind durch Ausnahmevorschriften vielfach durchlöchert“. (Ebd., S. 585)
Und so wurden im Kampf um ein besseres Arbeiterrecht die Sozialisten in der Zeit des Kaiserreiches nicht müde, jede noch so kleine Verbesserung anzusprechen und in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Nicht immer mit Erfolg, jedoch mit großer öffentlicher Resonanz in ihrer Anhängerschaft, so dass sich oft auf Umwegen und mit zeitlichem Verzug doch so manche Besserstellung erstreiten ließ. Die „Gewerbeordnung“ wurde mehrmals novelliert, zuletzt 1908. In sie fanden nach und nach Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes Eingang, so neben der Einschränkung der Kinderarbeit auch ein Verbot der Nachtarbeit für Frauen, eine Arbeitszeitregelung von höchstens zehn Stunden für Jugendliche und Frauen an Werktagen, für Frauen an Wochenend- und Feiertagen von maximal acht Stunden, ein Mutterschutz von acht Wochen. Für Männer galt in der Regel ein Zehn- bis Elfstunden-Arbeitstag, der bis 1914 auf neuneinhalb Stunden sank.[6] Doch erst die Weimarer Republik schuf die Basis für ein seinen Namen verdienendes Arbeitsrecht, verbunden mit den Namen von Hugo Sinzheimer oder Heinz Potthoff.
Systematisch betrachtet waren vor einhundert Jahren die Ausnahmetatbestände und die damit verbundene Rechtsunübersichtlichkeit Produkte der wirtschaftlichen und politischen Macht der besitzenden Klassen und ihrer Interessenverbände. So gedachten sich jene vor der fordernden und erstarkenden Arbeiterbewegung zu schützen und ihre Privilegien zu behaupten. Heute bietet sich und genau das umgekehrte Bild: Die seit dem Ende des Systemwettbewerbs und dem Beginn der Dominanz der neoliberalen Wettbewerbs- und Entsolidarisierungsideologie gewachsene Macht der Reichen und Privilegierten drängt auf die Schaffung von Ausnahmerecht, siehe das EEG. Und da passt es nur allzu gut ins Bild, wenn angesichts des „EU-Fiskalpaktes“ der EZB-Chef Mario Draghi das „Ende des europäischen Sozialmodells“ ausruft.[7]
Subkutaner als um 1900 verlaufen die heutigen Angriffe auf das Koalitionsrecht der Beschäftigten. Standen das das Stehen von Streikposten, das Überzeugen von Schwankenden, die Agitation für gewerkschaftliche Aktionen unter dem Damoklesschwert des Strafrechts, so befassen sich heute zahlreiche Anwaltskanzleien mit der Interpretation des Arbeitsrechts im Interesse der Arbeitgeber. Das geltende Arbeitsrecht wird in die Richtung hin ausgequetscht, dass es gelingt, Betriebsräte loszuwerden, missliebige Mitarbeiter zu entlassen, Arbeitszeit- und Arbeitsschutzbestimmungen auszuhebeln, dass es nur so kracht. Günter Wallraff berichtete darüber im Ergebnis seiner im Selbstversuch ermittelten Enthüllungen.[8] Und wo das Recht nicht weit genug über die Schmerzgrenze hinaus gedehnt oder gebeugt werden kann, bis es quietscht, hilft notfalls auch Mobbing weiter, wie Wallraff dokumentiert. Im Endeffekt aber ist Stadthagens Feststellung noch immer gültig: „Den Arbeitern soll auch der Weg der Selbsthilfe verrammelt“ werden, auch wenn das Koalitionsrecht als solches nicht zur Disposition steht. (Ebd., S. 586)
Doch auch das scheinbare Unangetastetbleiben eines Rechts an sich entpuppt sich keineswegs als eine neue Variante herrschaftlichen Umgangs mit bestehenden Grundrechten. So referierte Stadthagen die Position des Staatssekretärs des Rechtsamts des Innern Dr. Delbrück zum Koalitionsrecht wie folgt: „Nein, das Koalitionsrecht soll dem Wortlaut nach erhalten bleiben. Aber der Arbeitgeber soll berechtigt sein, den Arbeiter die Ausübung des Koalitionsrechtes zu untersagen.“ (Ebd., S. 587) Schon damals galt das Prinzip, so warf Stadthagen dem Staatssekretär vor, „durch angeblich staatsrechtliche, juristische und historische Erörterungen (…) das Koalitionsrecht, dieses Grundrecht der Arbeiter, zum Spielball der wirtschaftlich Mächtigeren“ zu machen. (Ebd.)
Stadthagen hob aus dezidiert sozialistischer Perspektive die Bedeutung des Koalitionsrechtes hervor: „Durch das Koalitionsrecht kommt der Arbeiter erst in dieselbe Lage wie jeder andere Warenverkäufer. Koalitionsbeschränkungen gefährden bei der Untrennbarkeit der Ware „Arbeitskraft“ von der Person ihres Eigentümers die persönliche Freiheit des sozial abhängigen Arbeiters. Das Koalitionsrecht der Arbeiter ist ein Kampfmittel im Kampfe gegen die ökonomische Hörigkeit der Arbeiter.“ (Ebd., S. 588) Jeder Angriff auf die Tätigkeit von Betriebs- und Personalräten, aber auch jedwede Bespitzelung von Arbeitskräften, der stets eine Disziplinierung oder die Entlassung auf dem Fuße folgt, ist ein solcher Angriff auf die nur kollektiv gewährleistete Freiheit eines abhängig Beschäftigten. Jede Spaltung von Belegschaften in Stammbelegschaften einerseits und Leiharbeitskräfte andererseits, jegliche Disziplinierung durch das Hartz-IV-Sanktionsregime, jede Kujonierung von Arbeitskräften und deren Vertretungen folgt damals wie heute der Logik, der „Arbeiter solle „Untergebener“ des Arbeitgebers sein“. (Ebd., S. 589) Man kann also trefflich mutmaßen, ob die gegenwärtige Realität des Arbeits- und Sozialrechts nicht eine den Worten von Bundeskanzlerin Merkel entsprechende Ausprägung der „marktkonformen Demokratie“ im Sinne der Über- und Unterordnung auszuprägen droht. Die heilige Kuh der „Wettbewerbsfähigkeit“ legt dies durchaus nahe. Vielleicht sei deshalb mit Stadthagen an einen Ausspruch des alles andere als marxistischen Historikers Heinrich von Treitschke erinnert, der „über das System schmutziger Geldgier der französischen Bourgeoisie“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts meinte: „Als diese in gehässigen Klassenkämpfen verbildete Bourgeoisie die Zügel des Staates in die Hände nahm, da begann ein Regiment ständiger Selbstsucht, das manche Sünde des französischen Sozialismus entschuldigt…Frohlockend nennen die Fabrikanten und Kaufleute in der Kammer sich selber Feudalherren der neuen Gesellschaft. Für das Elend des kleinen Mannes hat die Staatsgewalt kein Auge. Er muß zusehen, wie ihm die unentbehrlichsten Waren verteuert werden durch Schutzzölle, deren Ertrag in die Taschen der Unternehmer wandert, und wird durch parteiische Gesetze verhindert, mit vereinten Kräften seine gerechten Ansprüche auf höheren Lohn durchzusetzen.“ (Ebd., S. 590)
Doch gilt dies heutzutage nicht nur für Fragen wie den Mindestlohn, eine armutsfeste Rente oder für das EEG. Überall drängen die Mächtigen und Besitzenden auf neue Ausnahmetatbestände und Privilegien. Mit dem EEG und den Einspeisevergütungen konnten die großen Konzerne zeitweilig in ihre Schranken gewiesen werden. Damit bei diesem Gesetz und bei vielen anderen Gesetzen das Recht seinen Namen auch verdient, müssen die 99 Prozent des Volkes, denen diese Privilegien vorenthalten bleiben sollen, den Fehdehandschuh aufnehmen!
Oktober 2012
[1] Arthur Stadthagen, Gegen Koalitionsrecht und Arbeiterschutz, in: Die Neue Zeit, Band 31. 1912-1913, 1. Band, Heft 17. S. 585-590
[2] Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz siehe http://www.buzer.de/gesetz/9167/a165519.htm, Zugriff am 24.10.2012
[3] Zum Erbschaftssteuer- und Schenkungsgesetz siehe http://www.gesetze-im-internet.de/erbstg_1974/index.html,
Zugriff ebendann
[4] Friedrich Engels, Zur Lage der arbeitenden Klassen in England, MEW 2, Band 2, Berlin(DDR) 1957, S. 225ff
[5] http://www.handelsblatt.com/politik/international/rente-mit-60-hollande-loest-sein-erstes-versprechen-ein/6719162.html, Zugriff am 25. 10.2012
[6] Arthur Stadthagen, Die Novelle zur Gewerbeordnung vom Dezember 1908, Stuttgart 1909
[7] http://www.presseurop.eu/de/content/article/1555691-draghi-traegt-europas-sozialmodell-zu-grabe, Zugriff ebendann
[8] Günter Wallraff, Aus der schönen neuen Welt, Expeditionen ins Landesinnere, Köln 2009