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VDJ Konferenz 2010: Eckart Spoo – Menschenrechtsrhetorik und Militärinterventionen

Mittwoch, 8. Dezember 2010 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen

Die Wegbereitung für Auslandseinsätze der Bundeswehr am Beispiel des „Kosovo-Krieges“

[der nachfolgende Beitrag ist der dritte Vortrag auf der diesjährigen, gemeinsam mit IALANA und EJDM organisierten VDJ-Konferenz zum Thema "Menschenrechte als Interventionsgrund", welche am 23.10.2010 in Berlin anlässlich der Verleihung des Hans-Litten-Preises an die honduranische Richterin Tirza Flores Lanza stattfand. Er befasst sich mit dem Einsatz von Medien bei der Rechtfertigung von Militäreinsätzen.]

Was tun, wenn man einen Krieg führen will, und das Volk, das dumme Volk, mag nicht?

Das kommt gelegentlich vor, zum Beispiel am Ende des vorigen Jahrhunderts in Deutschland.

Zur Kriegsbegeisterung neigt das Volk eigentlich nie. Auch 1870, 1914 und 1939 mußten die Regierenden nachhelfen. 1870 zum Beispiel mit der von Reichskanzler Otto von Bismarck listig ersonnenen Emser Depesche, 1914 mit der erlogenen Nachricht von der französischen Mobilmachung, der sogleich die deutsche folgen müsse. Die Propaganda muß immer erst den bösen Feind mit bedrohlicher, angsterregender Fratze an die Wand malen, damit der gutmütige deutsche Michel bereit wird, hineinzuschlagen.

Im 20. Jahrhundert verlor Deutschland zwei große von ihm selbst angezettelte Kriege. Das erschwerte die Vorbereitung eines dritten Angriffskriegs. Erfahrungsgemäß lohnten sich Kriege, auch die verlorenen, zwar für einzelne, beispielsweise für Friedrich Flick, aber für fast alle anderen nicht. Insofern war die psychologische Kriegsvorbereitung am Ende des 20. Jahrhunderts eine schwierige Aufgabe. Erleichtert wurde sie dadurch, daß diejenigen, die jetzt in Deutschland regierten, von der deutschen Vergangenheit unbelastet zu sein schienen. Wir hatten eine neue, scheinbar linksgerichtete politische Führung: Rot-Grün.

Entscheidend für die Wirksamkeit der Angriffskriegspropaganda ist allemal, daß erfolgreich suggeriert wird, die Gewalt und alle Gefahr gingen von der anderen Seite aus. Denken wir an den Vietnam-Krieg. Da mußte der US-Geheimdienst CIA einen Überfall nordvietnamesischer Boote im Golf von Tonking erfinden, bevor die US-Air Force beginnen konnte, Hanoi und Haiphong zu bombardieren. Später, nachdem die Lüge ihre Wirkung getan hatte, gestand die Regierung in Washington ein, das Parlament un die Öffentlichkeit belogen zu haben. Die Lüge wurde zu den Akten genommen.

Wenn das Volk glaubt, wir, die Guten, seien angegriffen worden, ist es bereit, unsere Sache, die vermeintlich gute Sache, zu verteidigen, den Feind, den angeblichen Aggressor, zu stoppen, die Gefahr zurückzuschlagen. „Amerika schlägt zurück“ las ich 2001 als Schlagzeile des „Berliner Kurier“, als die USA den Krieg gegen Afghanistan begannen – der mächtigste Staat der Welt gegen einen der ärmsten und schwächsten. Das erinnerte mich an die berühmten Worte vom 1. September 1939: „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“, woran nicht einmal die Uhrzeit stimmte.

Anfangs hatte Hitler wegen seiner Absichten, den Kommunismus zu eliminieren, in führenden Schichten des Westens Sympathie und Unterstützung gefunden. Spätestens nach Stalingrad und Auschwitz änderte sich das. Seitdem bestand weltweit Konsens, daß Hitlers Kriege Angriffskriege waren, daß Hitler geschlagen werden mußte und daß kein neuer Hitler hochkommen dürfe. Das galt auch für die USA, die im Ergebnis der beiden Weltkriege zur führenden imperialistischen Macht aufgestiegen waren. Daß die USA viele militärdiktatorische Regime unterstützten, wurde in der westlichen Welt kaum thematisiert. Wenn aber die USA einen Krieg vorbereiteten, brachte es allemal propagandistischen Nutzen, den personifizierten Feind als „den neuen Hitler“ hinzustellen. US-Präsident Bush I. über Saddam Hussein: „Der Hitler von Bagdad.“ Sein Nachfolger Clinton über Milosevic: „Der neue Hitler“. Einen neuen Hitler, das war klar, darf man nicht gewähren lassen. Ihm muß man entschlossen und geschlossen entgegentreten. Und so konnten die aus Nazi-Zeiten überkommenen deutschen Eliten, indem sie sich in die Front gegen die „neuen Hitlers“ einreihten, seither als aktive Antinazis posieren.

Die große Inszenierung

Vor nun bald zwölf Jahren gaben regierende Politiker in Deutschland die Parole aus: „Wir können doch nicht einfach wegsehen, wir dürfen nicht untätig zusehen.“ Mit dieser Parole plädierten sie dafür, daß Deutschland einfach zuschlagen, einfach militärisch einzugreifen müsse – ohne jegliche Legitimation durch die Vereinten Nationen. Sie muteten uns zu, es als verantwortungsbewußte Politik zu akzeptieren, daß sie Deutschland in einen Angriffskrieg führten, der durch die UN-Charta, aber auch die NATO-Charta, die KSZE-Schlußakte, den 2plus4-Vertrag, das Grundgesetz und das deutsche Strafrecht verboten war. Jenseits allen geschriebenen Rechts nahmen Politiker eine von ihnen behauptete moralische Verpflichtung zur Nothilfe in Anspruch, weil schwere oder gar schwerste Menschenrechtsverletzungen verübt worden seien oder unmittelbar drohten.

Bundeskanzler Gerhard Schröder ließ uns am 24. März 1999, wenige Stunden nach Beginn der Bombardements, in einer Fernsehansprache wissen, das militärische Eingreifen solle „weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern“.

Humanitäre Katastrophe – welch eine Sprachungetüm! Als könnte eine Katastrophe humanitär sein. Diese Formulierung sollte offenbar so verstanden werden, als müßte aus Gründen der Mitmenschlichkeit ein gigantisches Verbrechen gegen die Menschlichheit verhindert werden, ein Verbrechen gegen die Menschheit gar, das schwerste Verbrechen, das das Völkerrecht seit den Nürnberger Prozessen kennt.

Auch Verteidigungsminister Rudolf Scharping sprach voller Empörung in der Stimme immer wieder von der „humanitären Katastrophe“ und verkündete, da könne man doch nicht einfach zusehen. Er selber freilich sah weg und flog vergnügt weg – nach Mallorca, wo er sich im Swimming-Pool filmen ließ. Schon Paul von Hindenburg hatte einst gesagt, der Krieg bekomme ihm wie eine Badekur. An den Kommentaren zum Kriegsgeschehen, die Scharping gelegentlich abgab, stimmte generell nichts.

Der damalige Bundesaußenminister Josef Fischer, der sich von den Medien gern familiär Joschka nennen ließ, sprach gleichfalls von „humanitärer Katastrophe“ und „Völkermord“ und von der inneren Zerrissenheit dessen, der wie seine Partei, die Grünen, eigentlich militärische Konfliktlösungen ablehne. Und fast alle Medien verbreiteten kritiklos die anrührende Geschichte von den naiven Pazifisten, die schwer mit sich ringen mußten, aber schnell gereift ihrer Verantwortung gerecht wurden, die ihnen sagte, in diesem Fall gebe es keine Alternative zur bewaffneten humanitären Hilfeleistung. Politiker der Grünen steigerten sich im angeblichen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung zu tragischer Größe und ließen sich dafür in Leitartikeln bewundern.

Das war Teil einer großen Inszenierung, die notwendig war, damit Schröder, Fischer, Scharping und die anderen Akteure jeden Hinweis aufs Völkerrecht mit einer Pose des Angewidertseins abtun konnten. Rechtliche Bedenken galten als läppisch, jeder Einwand prallte ab an der behaupteten, frei erfundenen Realität der schweren systematischen Menschenrechtsverletzungen, der ethnischen Säuberungen der Serben im Kosovo, des veritablen Völkermords. Alle zehn großen deutschen Medienkonzerne, alle regionalen Monopolblätter und auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beteiligten sich an dieser Propagandakampagne.

Helmut Kohl, bis Herbst 1998 Bundeskanzler, hatte schon einige Schritte zur Militarisierung der deutschen Außenpolitik getan; z.B. die Bundeswehr in einen sinnlosen, grotesken Einsatz nach Somalia entsandt. Ausdrücklich ausgeschlossen hatte Kohl aber militärische Interventionen ohne UN-Mandat. Die Bundeswehr werde nur an humanitären Blauhelm-Einsätzen teilnehmen, versprach Kohl. Und: Die Bundeswehr werde nicht in Ländern intervenieren, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt waren.

Das alles galt nun nicht mehr. Schröder hatte schon als Kanzlerkandidat gegenüber einer britischen Zeitung wissen lassen, er sei in Bezug auf die Nazi-Vergangenheit nicht so befangen wie Kohl. Er und Fischer und Scharping zeigten nicht die geringsten Skrupel, ausgerechnet gegen „die Serben“ Krieg zu führen, den dritten Angriffskrieg innerhalb eines Jahrhunderts nach 1914 und 1941. Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht hatte gerade an den Beispielen Serbien und Belorußland gezeigt, welche Massaker deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg verübt, wie brutal und wie systematisch sie Völkerrecht und elementare Menschenrechte verletzt hatten. Aber die Ausstellung war offenbar schnell vergessen; nirgendwo in den großen Medien wurde, soweit ich mich erinnere, dieser historische Hintergrund beleuchtet.

Ich will hier nur an die Erschießung tausender Bürgerinnen und Bürger der Industriestadt Kragujevac an einem einzigen Tage im Oktober 1941 erinnern. Die deutschen Besatzer ließen sogar eine ganze Schulklasse mit ihrem Lehrer zum Erschossenwerden antreten. Die klug und liebevoll gestaltete Stätte des Gedenkens an dieses Massaker wurde im Frühjahr 1999 bei einem Bombenangriff der NATO schwer beschädigt. Gerettet wurde das Gästebuch der Gedenkstätte. Ich konnte es einsehen, als ich wenige Wochen später, noch während des Krieges, mit einigen Gewerkschaftskollegen dort war. Eingetragen hatten sich u.a. die früheren Bundestagsabgeordneten der Grünen Petra Kelly und Gert Bastian. Ihre Botschaft war, die Grünen ständen dafür, daß Deutschland niemals wieder die Schrecken des Krieges über andere Länder bringen werde. Wenige Jahre nach dieser Eintragung bombardierte die NATO unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands 78 Tage und Nächte jugoslawische Städte und Fabrikanlagen, darunter die größte Fabrik des Landes, die Automobilfabrik Zastava in eben jener Stadt Kragujevac. Das Werk, in dem früher bis zu 55.000 Menschen beschäftigt waren, wurde zu einem riesigen Schrotthaufen zerbombt. Und die Grünen waren im Bundestag die eifrigsten Befürworter dieses Krieges.

Um die Grünen, zu deren Gründungskonsens der Pazifismus gehört hatte, auf Kriegskurs zu bringen, um die Friedensbewegung zu verunsichern und einzuschüchtern, um die ganze Bevölkerung auf den Krieg einzustimmen, erwies sich Josef Fischers Parole „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!“ als besonders zweckdienlich: Man müsse, um ein neues Auschwitz zu verhindern, leider, leider militärische Mittel anwenden. Und Rudolf Scharping reiste mit einer Gruppe von Bundeswehrsoldaten in die Gedenkstätte Auschwitz, um dort feierlich zu geloben, die Bundeswehr werde dafür sorgen, daß sich kein neues Auschwitz ereigne.

Unisono mit dem damaligen US-Präsidenten Clinton ernannte die „Bild“-Zeitung den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zum „neuen Hitler“, und andere Blätter taten das Ihre, uns die Schauermär in den Kopf zu setzen, Milosevic wolle den albanischstämmigen Bewohnern der serbischen Provinz Kosovo das Schicksal bereiten wie Hitler den Juden. Gerade wir Deutschen müßten nun beweisen, daß wir aus der Nazi-Vergangenheit gelernt hätten. Wir hätten insofern gegenüber den Opfern des bevorstehenden Völkermords eine besondere Verantwortung.

Überlebende von Auschwitz protestierten mit einer ganzseitigen Anzeige in der „Frankfurter Rundschau“ gegen diesen monströsen Mibrauch der Geschichte zur Rechtfertigung eines Angriffskriegs. Sie bekamen nicht einmal eine Antwort.

Aber was war denn nun eigentlich dran an den Vorwürfen gegen „die Serben“? Was erfuhren wir im Einzelnen über den angeblichen Völkermord im Kosovo? Welche Verbrechen wurden Milosevic angelastet, dem „neuen Hitler“, den die „Bild“-Zeitung in riesigen Schlagzeilen auch als „Der Diktator“, „Der Irre“ oder „Der Schlächter“ präsentierte?

Der angebliche Diktator war demokratisch gewählt. An internationale Vereinbarungen – namentlich die, die nach den Sezessionskriegen in Kroatien und Bosnien geschlossen worden waren – hatte er sich sorgsam gehalten, und das war meines Erachtens eine beachtliche staatsmännische Leistung. Noch nach dem Vertrag von Dayton, der den Krieg in Bosnien beendete, war klar: Kosovo ist integraler Bestandteil Serbiens, das seinerseits ein Bundesland der damals noch bestehenden, wenn auch schon arg gerupften und geschrumpften Bundesrepublik Jugoslawien war.

Gegen die UCK, eine terroristische Separatistenorganisation von albanisch-stämmigen Kosovaren, gingen serbische und jugoslawische Militär- und Polizeieinheiten mit mindestens dem selben Recht vor wie Truppen der NATO-Staaten Großbritannien in Nordirland, Spanien im Baskenland oder Türkei gegen kurdische separatistische Gewalttäter; diese Separatisten sind für die NATO bis heute allesamt Terroristen, also nicht etwa zu unterstützende Befreiungskämpfer. Die UCK dagegen wurde von NATO-Staaten, namentlich USA und Deutschland, massiv unterstützt und ausgerüstet: eine Bürgerkriegstruppe, die für die staatliche Loslösung des Kosovo von Serbien kämpfte, obwohl die Kosovo-Albaner in Serbien politische und kulturelle Sonderrechte genossen, von denen etwa die Kurden in der Türkei nur träumen konnten, zum Beispiel hatten eine eigene Universität. Besonders für die serbisch-orthodoxe Kirche war eine staatliche Abtrennung des Kosovo von Serbien unvorstellbar, denn im Kosovo, wo einst der serbische Staat entstanden war, befanden sich die meisten ihrer mittelalterlichen Kirchen und Klöster und Heiligtümer. Zudem hatte Serbien einiges Geld und einige Mühe in die Erschließung von Bodenschätzen im Norden des Kosovo investiert, den wohl größten Reichtum ganz Serbiens.

„Serbien muß sterbien“

lautete schon im Ersten Weltkrieg ein deutscher Schlachtruf. Die serbische Eigenständigkeit im Zentrum des Balkan störte die deutschen Expansionsbestrebungen in Richtung Irak (Stichwort: Bagdad-Bahn). Zu den Ergebnissen des Ersten Weltkriegs gehörte die Gründung des Vielvölkerstaates Jugoslawien mit der serbischen Hauptstadt Belgrad als Bundeshauptstadt. Im März 1941 kündigte Jugoslawien einen Pakt mit Italien und Deutschland auf und verbündete sich mit den Alliierten. Hitler befand, dadurch sei der bevorstehende Krieg gegen Griechenland und „erst recht“ der Aufmarsch gegen die Sowjetunion gefährdet; umgehend wurde beschlossen, Jugoslawien Anfang April 1941 zu überfallen und für immer auszulöschen. Das Land sei „militärisch und als Staatsgebilde zu zerschlagen“.

In der Zeit der Besetzung Jugoslawiens setzte Hitler-Deutschland alles daran, die Nationalitäten gegeneinander aufzuhetzen, vor allem gegen Serbien als Zentrum Jugoslawiens. Zehntausende Serben wurden im kroatischen KZ Jasenovac ermordet. In Bosnien und im Kosovo stellten die Besatzer SS-Truppen auf, Kosovo-Albaner bildeten die SS-Division Skanderbek. Die Nationalitäten im antifaschistischen Widerstand und nach dem Sieg über Deutschland im wiedervereinigten Jugoslawien wieder zusammenzuführen, war eine große Leistung des Widerstandsführers Josip Broz Tito, der bis zu seinem Tode 1980 das Land regierte. Doch kaum begann sich die Sowjetunion aufzulösen, kaum war Deutschland vereinigt und stärkstes Land Europas geworden, kaum hatte US-Präsident Bush sen. zu Beginn des ersten Krieges gegen den Irak die „neue Weltordnung“ ausgerufen, wälzte man in Bonn eilig wieder alte Pläne, Ordnungsmacht auf dem Balkan zu werden. Auf einer Strategietagung von Rüstungsmanagern und hohen Bundeswehr-Offizieren erklärte 1991 der ehemalige Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz: „Wir glauben, daß wir die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkriegs überwunden und bewältigt hätten, aber in anderen Bereichen sind wir damit befaßt, noch die Folgen des Ersten Weltkriegs zu bewältigen – Jugoslawien ist als eine Folge des Ersten Weltkriegs eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsrecht nie vereinbar gewesene Konstruktion.“ Unter Assistenz des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Genscher – eifrig unterstützt auch von führenden SPD-Politikern – setzte die Anerkennung dieser beiden Staaten entgegen äußerst besorgten Warnungen des damaligen UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar und sogar des damaligen NATO-Generalsekretärs Lord Peter Carrington durch. Carrington schrieb, dieser Schritt Deutschlands könne „der Funke sein, der Bosnien-Herzegowina in Brand setzt“. Cuellar verwies auf sorgenvolle Erklärungen der Präsidenten von Bosnien-Herzegowina und Makedonien und ließ Genscher in einem Schreiben wissen, er sehe seine eigenen Bemühungen um Friedenserhaltung „ernstlich gefährdet“. Alija Izetbegovic, der mohammedanische Präsident Bosnien-Herzegowinas, besuchte im November 1991 die Bundesrepublik Deutschland und warnte vor der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, weil der damit besiegelte Zerfall des multinationalen Jugoslawiens zwangsläufig zum Untergang des multinationalen Bundeslandes Bosnien-Herzegowina führen müsse. Izetbegovic stieß damit in Bonn auf taube Ohren. Und es begann die Zeit der blutigen Vertreibungen.

Hunderttausende Menschen wurden aus den Orten, in denen ihre Familien seit Jahrhunderten ansässig waren, vertrieben, nur weil sie nicht zur Mehrheitsbevölkerung der Region gehörten. Schrecklich erging es vor allem den Serben in der Krajna, einem alten serbischen Siedlungsgebiet in Kroatien; die deutsche Öffentlichkeit erfuhr davon wenig. Als der Funke der ethnischen Vertreibungen, wie allgemein befürchtet, auf Bosnien-Herzegowina übersprang und dort der Bürgerkrieg ausbrach, waren in der deutschen Wahrnehmung allemal „die Serben“ die Übeltäter. Zum Inbegriff serbischer Grausamkeit wurde der Ortsname Srebrenica. Ich kann nur empfehlen, zu diesem Thema das Buch des bulgarischen, früher bei der Deutschen Welle tätigen Journalisten Germinal Civicov zu lesen, der die Verfahren vor dem Internationalen Sondergerichtshof in Den Haag gründlich verfolgt hat. Man bekommt da nicht nur eine Ahnung davon, was wirklich in und um Srebrenica geschehen ist, sondern vor allem auch vom Ausmaß der Desinformation bei der Herstellung des Feindbilds „die Serben“. Übrigens: In Serbien selbst blieb es während der 90er Jahre ruhig, auch in der multiethnischen Provinz Vojvodina. Und allein in Belgrad lebten und leben etwa 100.000 ethnische Albaner, die großenteils aus dem Kosovo stammen. Kein einziger Übergriff gegen sie ist bekannt geworden.

In deutschen Politikerreden und Leitartikeln wurde jahrelang immer wieder behauptet, Milosevic habe 1991 in einer Rede auf dem Amselfeld, also im Kosovo, nationalistische Töne angeschlagen und sei deswegen der Schuldige an allen Sezessionskriegen. Als später die Zeitschrift „konkret“ die Rede im vollen Wortlaut veröffentlichte, erwiesen sich diese Behauptungen als üble, von der angeblich so seriösen „Frankfurter Allgemeinen“ betriebene Irreführung der Öffentlichkeit. Daß dann in Zeiten wachsenden Terrors der UCK das Verhältnis zwischen den Volksgruppen im Kosovo immer schlechter, feindseliger wurde, versteht sich von selbst.

Am 13. Oktober 1998 einigte sich Milosevic mit dem US-Diplomaten Richard Holbrooke darauf, daß die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 2.000 Beobachter in den Kosovo schicken sollte, um den inneren Frieden wiederherzustellen. Ich empfehle zur Lektüre die beiden Bücher von General Heinz Loquai, dem deutschen Militärberater in der Zentrale der OSZE in Wien. Man erfährt da, daß Ende 1998, Anfang 1999 die Gewalt im Kosovo deutlich abnahm. Verstöße gegen das Abkommen wurden überwiegend nicht auf serbischer Seite, sondern auf Seiten der UCK festgestellt. Aber statt 2.000 Beobachter, deren bloße Anwesenheit der Gewalt entgegenwirken sollte, kamen nur 700. Milosevic mahnte bei der OSZE die Erfüllung des Abkommens an – vergeblich. An die Spitze der OSZE-Mission trat der US-General William Walker, der von vornherein gegen Serbien und die Serben Partei nahm und die OSZE zur Kriegsvorbereitung mißbrauchte. Inzwischen hatte der NATO-Rat schon am 13.Oktober 1998, also am Tage des Holbrooke-Milosevic-Abkommens, ihren Generalsekretär zum Bombenkrieg gegen Jugoslawien ermächtigt. Dazu Loquai: „Den USA ging es offenbar auch darum, einen Präzedenzfall für ein militärisches Eingreifen ohne UN-Mandat herbeizuführen.“

Ein serbisches Massaker wurde gebraucht

Es fand sich eine Anzahl toter Kosovo-Albaner – sämtlich erwachsene Männer – im Dorf Razak. Walker konstatierte, „die Serben“ hätten ein Massaker verübt. Einzelheiten werden bis heute geheimgehalten. Vieles spricht für die serbische Version, in Racak habe ein nächtliches Gefecht zwischen einer UCK-Einheit und serbischen Sicherheitskräften stattgefunden.

Obwohl auch die UCK anfangs von „Kämpfen“ um Racak sprach, wußte US-Präsident Clinton sogleich, daß es sich um ein „Massaker“ handele, und er verurteilte es in der „schärfstmöglichen Form“. Das deutsche Auswärtige Amt behauptete kühn, die Opfer seien Zivilisten. Deren „brutale Verfolgung und Ermordung“ sei für die internationale Gemeinschaft nicht hinnehmbar. Außenminister Fischer erklärte Racak zum „Wendepunkt“. Drei Tage später verlangte Fischers US-Kollegin Madeleine Albright zur „Bestrafung“ die Bombardierung Jugoslawiens. Deutsche Medien waren begeistert dabei, allen voran ein Mitarbeiter der „tageszeitung“ (taz), Erich  Rathfelder. Als dann im Mai 1999, noch während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien, Anklage gegen Milosevic wegen Verbrechen gegen die Menschheit erhoben wurde, war das angebliche Massaker von Racak das einzige Verbrechen, das konkret benannt wurde. Nicht Gegenstand der Anklage war der sogenannte Hufeisenplan, den vor allem der deutsche Kriegsminister Scharping immer wieder zur Kriegsbegründung anführte, ein angeblicher serbischer Plan zur Vertreibung der albanischen Bevölkerung Kosovos, frei erfunden für den westlichen Propagandakrieg. Als dann die Bomben fielen, setzten sich tatsächlich große Flüchtlingstrecks in Bewegung zu den wohlvorbereiteten Zeltlagern in Albanien und Makedonien. Wie wenig auch deutsche Behörden an ethnische Verfolgung im Kosovo glaubten, zeigte sich daran, daß sie sie bis zum 24. März, dem Tag des Bombenkriegsbeginns, nicht als Asylgrund anerkannten. Was nicht als Asylgrund und auch nicht als Grund für eine Duldung, also für Schutz vor Abschiebung ausreichte, genügte als Grund für einen Angriffskrieg.

Frei erfunden waren auch die Greuelgeschichten, die Scharping während des Krieges als weitere Begründungen nachlieferte: Das Stadion von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, diente angeblich als serbisches KZ. Der Minister sprach von Serben als „Menschen im Blutrausch“, die mit abgeschnittenen Köpfen Fußball spielen. Serbische Soldateska habe schwangeren Frauen den Fötus aus dem Leib geschnitten. Schlimmer noch: Die Föten seien geröstet und anschließend wieder eingenäht worden. Je schlimmer die Greuel, desto besser eigneten sie sich für die Rechtfertigung des Angriffskrieges. Und Zweifel waren nicht erlaubt. Angelika Beer, friedenspolitische Sprecherin der Grünen, konstatierte: „Jeder Zweifel an dem, was wir beschlossen haben, stärkt Milosevic, schwächt die NATO und verunsichert die Soldaten, die im Einsatz sind.“

All diese Methoden waren freilich nicht neu. So oder ähnlich waren schon andere Kriege vorbereitet worden. Ich erinnere an die tränenreiche Aussage einer angeblichen Krankenschwester aus Kuwait, irakische Soldaten hätten in kuwaitische Krankenhäusern Babies aus den Brutkästen gerissen und ermordet. Eine von der Regierung in Washington beauftragte US-amerikanischen Werbeagentur hatte den Auftritt inszeniert. Und gleich nach Beginn des Krieges gegen den Irak bezeichnete der US-Oberkommandierende General Norman Schwarzkopf die irakischen Soldaten als „tollwütige Hunde“; jeder US-Soldat verstand, daß tollwütige Hunde abgeschossen gehören.

Nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien rühmte sich der Sprecher des Pakts, der Brite Jamie Shea: „What do you want? We created stories and made a good show.“ Sein Stellvertreter, der deutsche Oberst (dann bald Generalmajor) Walter Gertz, empfahl in seinem Buch „Krieg der Worte, Macht der Bilder“ „Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung“ als Stilmittel, die der Pressesprecher beherrschen müsse.

Halten wir fest: Es gehört geradezu notwendig zur Vorbereitung eines Angriffskriegs, daß dessen Opfer zu Tätern, zu Aggressoren erklärt werden gegen die wir, die Guten, uns verteidigen bzw. unseren guten freunden beistehen müssen. Wir müssen. Wir können nicht anders. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen. Wir müssen eingreifen – so schwer uns die Entscheidung auch fällt. Da erstirbt das Volk in Mitleid und Respekt vor Politikern, die eine so schwere Verantwortung tragen. „Es gibt keine Alternative“, behaupten sie, als wären sie nichts anderes als ausführende Organe der Vorsehung. So werden Völker in Kriege gezogen.

Das wichtigste Methode war und blieb wie in allen Kriegen so auch im Krieg gegen Jugoslawien die Verdrehung der Ursachen, die Verkehrung der Kriegsschuld. „Die Verantwortung für die Luftschläge liegt allein bei Milosevic“, sagte Scharping nach Beginn der Bombardements, und sein Staatssekretär Walter Stützle bekräftigte im Fernsehen, daß wir keinesfalls von Bombenangriffen reden dürften, sondern von „Luftschlägen“. Und Kanzler Schröder teilte dem Fernsehvolk am Tag des Kriegsbeginns mit: „Wir führen keinen Krieg.“ Nein, wir, die Guten, führen keinen Krieg, sondern handeln humanitär. Viele Menschen in Deutschland plapperten das nach – was mich an einen Bericht des US-amerikanischen Publizisten William S. Shirer erinnerte, der während des Zweiten Weltkriegs eine Zeitlang in Berlin gearbeitet hat: Auch gebildete Deutsche, so beobachtete er, plapperten immerzu das nach, was ihnen im Radio vorgeplappert werde. Mir scheint, im Fernsehzeitalter ist die Gläubigkeit noch gewachsen.

1939 las man acht Tage nach Kriegsbeginn im „Darmstädter Tagblatt“, einer typischen deutschen Regionalzeitung von damals, unter der Überschrift „Polen führt Krieg gegen Wehrlose / Organisierter Mord / Die letzten Tage eine Kette unerhörter Greuel“: Der Kampf der deutschen Truppen gelte „nur dem bewaffneten Gegner, dem Wehrlosen gegenüber ist Menschlichkeit eine selbstverständlich ernste Pflicht, und diese ist uns Deutschen angeboren. Sie sollte allen Völkern, die sich zu den Kulturnationen rechnen, zumindest anerzogen sein. Die Polen dürfen sich zu dem Kreis dieser Kulturvölker nicht mehr zählen. Was sie sich in den vergangenen Tagen an sadistischen Grausamkeiten, an Greueltaten gegen Unbewaffnete und Verwundete geleistet haben, das ist schlimmer als alles, was der Weltkrieg (gemeint ist der Erste Weltkrieg; E.S.) gesehen hat.“

So bitter es ist, das feststellen zu müssen: Die Sprache hat sich nicht wesentlich geändert. Hier zeigt sich ein Stück Kontinuität: Wir stehen für die Menschlichkeit ein, die dem Feind abgeht. Wir müssen andere Länder besetzen, um dort die Menschenrechte durchzusetzen. Unsere Angriffskriege sind humanitäre Missionen…

NATO contra OSZE

Was jenseits aller Propaganda der wahre Zweck des Krieges zur endgültigen Zerschlagung Jugoslawiens war, erklärte laut „Washington Post“ vom 21.4.1999 Robert E. Hunter, ehemaliger Botschafter der USA bei der NATO, mit dem Hinweis auf die strategische Bedeutung Jugoslawiens: „Es eröffnet den Zugang zu Regionen, die für den Westen von vorrangigem Interesse sind – im Hinblick auf den arabisch-israelischen Konflikt, den Irak und den Iran, Afghanistan, das Kaspische Meer und Transkaukasien. Die Stabilität in Südeuropa ist unentbehrlich für den Schutz der westlichen Interessen und die Eindämmung von Gefahren, die weiterhin aus dem Osten drohen.“

Seit Bush sen. von der „neuen Weltordnung“ sprach, seit das Konzept der NATO demgemäß geändert wurde und seit namentlich auch die Bundeswehr – zunächst leider viel zu wenig beachtet – schon 1992 in ihren Verteidigungspolitischen Richtlinien auf Sicherung der Zugänge zu Rohstoffen und Absatzmärkten verpflichtet wurde, sollten wir keine Hemmungen haben, diese Politik als imperialistisch zu klassifizieren. Freilich wurde es uns nicht leicht gemacht, sie zu durchschauen.

Dem Bombenkrieg der NATO waren Verhandlungen in Rambouillet vorausgegangen, die der Öffentlichkeit so geschildert wurden, als würde versucht, Frieden im Kosovo herzustellen. Wie sich herausstellte, versuchten die Westmächte, Serbien zu erpressen, sein ganzes Territorium für die NATO zu öffnen. Milosevic lehnte ab. Daraufhin beschlossen die Westmächte, die OSZE aus dem Kosovo abzuziehen, und es begann die militärische Überwältigung Jugoslawiens durch die NATO.

Was das bedeutet, ist, soweit ich es überblicke, bisher kaum wahrgenommen und reflektiert worden. Wer erinnert sich überhaupt noch an die OSZE und ihr Gründungsdokument, die Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 in Helsinki von den Staats- oder Regierungschefs aller europäischen Staaten (außer Albanien) unterschrieben wurde, darunter von Helmut Schmidt und Erich Honecker. Damals, 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, war immer noch kein Friedensvertrag zustande gekommen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich, begünstigt durch die Bedingungen des Kalten Kriegs, erfolgreich gegen einen Friedensvertrag gewehrt, der für sie selbstverständlich nicht ganz billig geworden wäre. Entschädigung hatte sie – außer an den Staat Israel und jüdische Organisationen – an fast niemanden gezahlt. Viel Raubgut war in deutschem Besitz geblieben, und der Adenauer-Staat hatte viele Bestimmungen des Potsdamer Abkommens zur demokratischen Umgestaltung Deutschlands mißachtet. Kurz: Die alten Besitz- und Machtgruppen in der Bundesrepublik Deutschland waren glänzend davongekommen. Wesentlicher Inhalt des Friedensvertrags hätten selbstverständlich Regelungen zur Sicherung des Friedens in Europa sein müssen. Finnland und vor allem Jugoslawien als blockfreie Staaten machten sich um das Zustandekommen der KSZE besonders verdient. Gerade Jugoslawien mit all seinen leidvollen Erfahrungen in den ersten drei Vierteln des 19. Jahrhunderts versprach sich dauerhafte Sicherheit davon, daß die europäischen Staaten einander die territoriale Integrität, die Unantastbarkeit bestehender Grenzen, die politische Souveränität und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten jedes Unterzeichnerstaates garantierten. Deutsche Machtgruppen, für die namentlich Franz Josef Strauß sprach, stemmten sich gegen diese Weiterentwicklung der Entspannungs- und Friedenspolitik, so wie sie auch den Atomwaffensperrvertrag bekämpften; sie konnten sich aber damals – es war die Zeit nach dem Vietnamkrieg, als sich die USA zu manchen politischen Korrekturen genötigt sahen – nicht durchsetzen. Die in Bonn in den 1970er Jahren regierenden Sozial- und Freidemokraten brüsteten sich, den Ostblockstaaten Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte abgerungen zu haben. Tatsächlich bestanden in der DDR und anderen Staaten aus dem Bereich des Warschauer Pakts Bedenken, daß die in Kapitel 3 der Schlußakte enthaltenen Menschenrechtsgarantien zur Einwirkung in ihre inneren Angelegenheiten dienen könnten. Sollte etwa der Springer-Konzern unter Berufung auf das Menschenrecht der Pressefreiheit die DDR mit der „Bild“-Zeitung überschwemmen dürfen? Ich äußerte damals in Diskussionen Verständnis für diese Sorgen, warb aber dringend auch für das Kapitel 3 („Korb 3“, wie man damals sagte) als wichtigen Schritt zur Universalisierung der Menschenrechte auf dem einzig möglichen Wege: dem Weg völkerrechtlicher Vereinbarung, also unter der Voraussetzung, daß die Rechte und Pflichten für alle europäischen Staaten gleichermaßen gelten sollten. Die KSZE-Schlußakte und die Gründung der OSZE erschienen mir als große, befreiende Errungenschaften. Um so schrecklicher, verbrecherischer empfand ich es, wie Deutschland, kaum war es ohne Friedensvertrag wiedervereinigt, die territoriale Integrität Jugoslawiens mißachtete, wie es die Vereinten Nationen mißachtete, wie es die OSZE mißachtete, wie es für sich und für die NATO das Recht des Stärkeren in Anspruch nahm, wie es in engem Zusammenwirken mit den USA den Nordatlantikpakt vom Verteidigungsbündis zum Weltherrschaftspakt umdefinierte, der inzwischen sogar in Afghanistan und Pakistan, weit entfernt vom Nordatlantik, westliche Interessen durchsetzen will.

Kriegsergebnisse

Was sind nun die Ergebnisse des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien?

Jugolawien als blockfreier Staat, der auf diesen politisch errungenen Status stolz war, stolz auch darauf, gemeinsam mit Gandhis und Nehrus Indien weltweit als Sprecher der blockfreien Staaten respektiert zu sein, existiert nicht mehr. Die NATO hat den ganzen Balkan unterworfen. Und im Kosovo ist eine riesige Militärbasis der USA entstanden: Camp Bondsteel.

Jugoslawien besteht überhaupt nicht mehr. Der imperialistische Block hat nach dem Motto „divide et impera“ Jugoslawien in etliche Kleinstaaten aufgeteilt, alle mehr oder weniger schwach. Montenegro hat gerade mal 600.000 Einwohner. Auch Kosovo soll nach dem Willen der NATO unabhängig sein, ist aber bisher nur ein ärmliches Protektorat der Europäischen Union mit mehr als 50 Prozent Arbeitslosigkeit. Die notwendige wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit auf dem Balkan ist durch die kriegerische Spaltungs- und ökonomische Erpressungspolitik des Westens (die mit jahrelangem Embargo begonnen hatte) auf lange Zeit erschwert.

Ethnische Säuberungen, die zu verhindern angeblich Haupt-zweck der westlichen Interventionen war, vor allem des Bombenkrieges 1999, haben stattgefunden – mit schrecklichen Folgen. Ich will das nur mit einem Beispiel illustrieren: In Prizren, seit 1999 Hauptstadt der deutschen Besatzungszone des Kosovo, ist das traditionelle Serbenviertel seit 2004 ein mit Stacheldraht umzäuntes Trümmerfeld mit schrecklichen Brandspuren. Hier fand unter Aufsicht der Bundeswehr ein Pogrom statt. Die Bundeswehr sorgte für den Abtransport der Serben – weg aus dem Kosovo. Ein wachhabender deutscher Offizier, mit dem wir darüber sprachen, rühmte die Erfolge: In Prizren und Umgebung sei es ganz ruhig geworden. Die Gegend sei jetzt „serbenfrei“. Vertrieben wurden auch Juden und viele Roma, die dann zu Tausenden nach Deutschland flüchteten; die deutschen Ausländerbehörden versuchen sie jetzt loszuwerden.

Die politische Souveränität ist auch in Serbien stark eingeschränkt, politische Einmischung allgegenwärtig. Beispiele: Justiz, Gewerkschaften, Medien. Finanzielle Hilfen für das – unter anderem auch durch Hunderttausende Vertriebene und Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien und Kosovo notleidend gewordene – Land wurden immer wieder davon abhängig gemacht, daß Politiker und Militärs unter der Anschuldigung, Kriegsverbrechen begangen zu haben, einer von NATO-Sprecher Shea treffend als „Freundin der NATO“ bezeichneten, von NATO-Mitgliedern initiierten und finanzierten Sondergerichtsbarkeit in Den Haag überstellt werden. Andere werden unter Druck von außen im Lande selbst angeklagt und verurteilt, so der frühere Direktor des serbischen Fernsehens, Dragoljub Milanovic, weil er angeblich am Tod von 16 Beschäftigten des Senders schuld ist. Die 16 waren – mitten im Belgrad – Opfer eines gezielten NATO-Bombenangriffs geworden. Das Kriegsvölkerrecht verbietet die Bombardierung von Sendern. Milanovic wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er die Beschäftigten nicht wegen der Gefahr eines Bombardements weggeschickt habe. So versuchen die Aggressoren noch im Nachhinein, die Opfer zu Tätern zu machen. Viele Medien auf dem Balkan gehören inzwischen schon seit Jahren dem Essener WAZ-Konzern, der vom zeitweiligen Balkan-Beauftragten des damaligen Bundeskanzlers Schröder, Bodo Hombach, geleitet wird. Wie souverän können Staaten mit fremdgesteuerten Medien sein? Zum eifrig von außen betriebenen „regime change“ in Serbien gehörte auch ein deutlich von außen gesteuerter Putsch mit Brandstiftung in der Slubstina, auf Deutsch Reichstag.

Ich kann die Ergebnisse des Krieges nur in wenigen Stichworten aufzählen. Keinesfalls darf ich dabei die Menschen vergessen, die den 78tägigen Bombenterror ertragen mußten. Viele wurden Opfer von Streu- beziehungsweise Splitterbomben. Schon die erpresserische Androhung von Gewalt während der Geheimverhandlungen in Rambouillet verstieß gegen die UN-Charta, erst recht die Anwendung von Gewalt, zumal mit völkerrechtlich geächteten Waffen; dazu gehören die mit abgereichertem Uran gehärteten Geschosse. Die NATO-Luftstreitkräfte zerstörten Wohnviertel, Kraftwerke, Chemiefabriken – nicht etwa versehentlich als Kollateralschäden, wie Shea, Gertz und Scharping frech behaupteten. Das riesige Chemiewerk in Novi Sad wurde an dem Tag im Mai 1999, an dem wir es kurz zuvor besucht hatten, zum zwölften Male bombardiert. Unvergeßlich die hunderte Meter hohe schwarze Rauchsäule. Auf dem weiten Gelände an der Donau war schon nach den vorangegangenen Angriffen alles durcheinandergewirbelt. Die ökologischen Folgen für die Menschen dieser Region, auch für künftige Generationen, lassen sich kaum benennen und noch längst nicht beziffern. Von Entschädigung der Opfer ist keine Rede. Die Bundesregierung verhält sich ähnlich wie gegenüber den Entschädigungsforderungen aus Distomo und anderen Orten von Wehrmachtsmassakern in Griechenland und Italien im Weiten Weltkrieg. Überlebende und Hinterbliebene eines Bombenangriffs am Pfingssonntagmorgen auf die Morava-Brücke im Ortszentrum des serbischen Städtchens Varvarin haben auf Entschädigung geklagt. Das Verfahren läuft noch. Der Anwalt der Bundesregierung argumentierte zynisch, die Opfer seien eben „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen.

Und das alles im Namen der Menschenrechte

Nein, das habe ich hoffentlich hinreichend zeigen können: Die menschenrechtlichen Kriegsgründe waren frei erfunden. Den angeblichen Konflikt von Menschenrecht und Völkerrecht, an dem sich einige Philosophen, Theologen und Grüne abarbeiten durften, gab es nicht, und wir sollten uns auch heute und in aller Zukunft vor jedem Versuch in acht nehmen, da einen Gegensatz zu konstruieren. Die weltweite Geltung von Menschenrechten muß m.E. in einem permanenten Prozeß, durch ständigen politischen Kampf erreicht werden. Institutionen und Vereinigungen wie das ECCHR, bei dem wir heute zu Gast sein dürfen, können dazu wichtige Beiträge leisten, Bewußtsein bilden, Beispiele schaffen.

Auch und gerade im NATO-Bombenkrieg gegen Jugoslawien wurden Menschenrechte massiv verletzt, angefangen beim Menschenrecht auf Leben, beim Recht auf körperliche Unversehrtheit übers Eigentumsrecht und soziale Menschenrechte auf Wohnung, auf Arbeit bis hin zu politischen Grundrechten. Es ist ein schwerer Eingriff in die sozialen Grundrechte der Serben, daß fast die gesamte Industrie des Landes, weitgehend im kollektiven Eigentum der Beschäftigten, vernichtet wurde. Massiv verletzten die Angriffskrieger auch das Grundrecht auf Information und freie Meinungsbildung – nicht nur in Jugoslawien, auch in Deutschland, denn wie wurden systematisch belogen und irregeführt.

Zum Schluß möchte ich einige politische Aufgaben nennen: Vordringlich erscheint mir, daß wir für offene, öffentliche Erinnerung an den Bombenkrieg gegen Jugoslawien sorgen. Die meisten unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen fast nichts davon. Die Politiker und die Medien, die den Souverän, das Volk, damals irregeführt haben, werden sicher weiterhin jede Konfrontation mit der Wahrheit scheuen. Aber wir müssen ihnen diese Konfrontation zumuten. Ich habe beispielsweise den Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises, in dem ich wohne, Wolfgang Thierse, deswegen angeschrieben und aufgesucht. Ich will nicht für mich behalten, daß ich seine Reaktionen auf meinen Vorwurf, an schweren Verbrechen mitgewirkt zu haben, jämmerlich fand. Wir müssen, meine ich, so deutlich wie nur möglich sagen, daß Angriffskrieg ein schweres Verbrechen ist und daß die NATO mit einem Krieg, für den sie sich um Mandatierung durch die UNO gar nicht erst bemüht hat, eine weltpolitisch höchst gefährliche Entwicklung eingeleitet hat. Wir müssen uns vor Geschichtsklitterern, Sprachreglern und Verharmlosern in acht nehmen, die z.B. diesen Krieg, der sich gegen ganz Serbien richtete, zum „Kosovo-Krieg“ verniedlichen und verfälschen. Wir müssen auf eine Stärkung kollektiver Sicherheitssysteme, namentlich der UNO und der KSZE, dringen und dem Grundsatz der Gleichheit aller Mitglieder Geltung verschaffen; dies bedeutet eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Imperialismus, der alles ungleich machen will: die Menschen und die Völker – etwa mit der Forderung nach einem ständigen Sitz der BRD im UN-Sicherheitsrat. Von den USA muß wirkungsvoll gefordert werden, daß sie sich nicht weiterhin der strafrechtlichen Verfolgen von Angriffskriegen widersetzen und sich der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshof unterwerfen. Wir müssen unser Grundrecht auf Information geltend machen, vor allem gegenüber Zeitungen, die im Verbreitungsgebiet das Monopol haben. Gerade in Zeiten internationaler Krisen und Kriege sind wir auf eine Berichterstattung angewiesen, die der Wahrheit entspricht und die jeweils andere Konfliktpartei zu Wort kommen läßt. Slobodan Milosevic kam jahrelang bis zu seinem Ende – das eine Ermordung gewesen sein könnte– in den deutschen Medien nicht zu Wort. Wahrheitsbringer wie der Schriftsteller Peter Handke wurden nicht gehört sondern heruntergeputzt. Und wir müssen auf die Opfer schauen. Ja, da dürfen wir nicht wegsehen. Und da dürfen wir nicht zulassen, daß uns der Zugang zu Fernsehbildern der anderen Seite versperrt wird, wie es auf Betreiben der Bundesregierung im Krieg gegen Jugoslawien geschah.

Ein gutes Beispiel gaben die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, als sie in einer Plenarsitzung Schilder mit den Namen der Opfer des von dem deutschen Obristen Georg Klein in Kundus (Afghanistan) angeordneten Massakers vor sich aufstellten. Die Opfer dürfen nicht anonym bleiben.

Vor dem Krieg gegen den Irak 2003 machte sich die Journalistin Ingelis Gnutzmann vom Westdeutschen Rundfunk mit einem Kameramann auf, im Irak einen Film unter dem Titel „Dem Feind ein Gesicht geben“ zu drehen. Sie wurde „aus ARD-politischen Gründen“ zurückgerufen. Stattdessen wurde zum Beispiel von einem US-amerikanischen Flugzeugträger über die Kriegsvorbereitungen berichtet. „Dem Feind ein Gesicht geben“ – das könnte das Kriegführen und die verlogene Menschenrechtsrhetorik erschweren.

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Thema: RechtInternational, Staat Demokratie BürgerInnenrechte

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