VDJ-Konferenz 2010: Norman Paech – Responsibility to Protect, Souveränität, Menschenrechte
Montag, 29. November 2010 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
von Prof. Dr. Norman Paech
[der nachfolgende Beitrag ist der Auftaktvortrag für die diesjährige, gemeinsam mit IALANA und EJDM organisierte VDJ-Konferenz zum Thema "Menschenrechte als Interventionsgrund", welche am 23.10.2010 in Berlin anlässlich der Verleihung des Hans-Litten-Preises an die honduranische Richterin Tirza Flores Lanza stattfand. Er befasst sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und dem Schutz von Menschenrechten.]
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
eine Vorbemerkung zu unserem Thema, welches sich mit dem Widerspruch zwischen dem staatlichen Anspruch auf Souveränität und den individuellen Menschenrechten beschäftigen soll. Es betrifft die Rolle des Völkerrechts ganz allgemein – und das Prinzip der Souveränität wie auch die Menschenrechte sind Völkerrecht – in unserer Staats- und Rechtsordnung. Diese Frage war ein zentrales Thema in den Beratungen von Herrenchiemsee von 1948 für den Entwurf eines Grundgesetzes, in dem die Stellung der zukünftigen Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft und ihrer Rechtsordnung kodifiziert werden sollte. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid führte damals aus:
“Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht. Die Verrechtlichung eines Teiles des Bereichs des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht des Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen. Selbst die Gesetze eines Drakon, von denen man das Wort ‚drakonisch‘ ableitet, waren ein Fortschritt, denn sie setzten der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Die fürchterliche Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V., deren Lektüre uns heute Schaudern macht, war einmal ein Fortschritt, denn auch sie setzte der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Der Vater des Völkerrechts, Hugo Grotius hat genau gewusst, was er getan hat. Er hat erkannt, dass es, nachdem es der englischen Übermacht gelungen war, die holländische Flagge fast ganz von den Meeren zu verjagen, nur ein Mittel gab, Hollands Lebensmöglichkeiten zu erhalten, nämlich die Lebensverhältnisse auf der hohen See zu verrechtlichen und gegen das englische mare clausum das mare liberum zu setzen. Die sog. kleinen Mächte sind nicht umsonst die großen Pioniere des Völkerrechts gewesen; das hat einen – oft uneingestandenen und unerkannten – politischen Grund. Daher sollten wir Deutsche, gerade weil wir heute so machtlos sind, mit allem Pathos, das uns zu Gebote steht, den Primat des Völkerrechts betonen.“
Schmids Ansicht setzte sich durch und Art. 25 des Grundgesetzes erhielt den auch heute noch gültigen Wortlaut: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Die neue Bundesrepublik war damals bereit, sich den internationalen Regeln des Völkerrechts zu unterwerfen, Regeln, die in der folgenden Epoche der Nachkriegszeit die dynamischste und fortschrittlichste Entwicklung seit dem Friedensvertrag von Münster erlebten, der den dreißigjährigen Krieg beendete. Ich verweise nur auf die Ausdehnung des Kriegsverbots im Briand-Kellog-Pakt von 1928 zum strikten Gewaltverbot in der UNO-Charta und zum Gewaltmonopol der UNO. Auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches den Befreiungsanspruch der kolonisierten Völker rechtlich begründete. Vor allem aber sind es die Menschenrechte, die in diesen 60 Jahren eine beispiellose und bis dahin unerreichte Stärkung erfahren haben.
Das war der UNO-Charta 1945 noch nicht anzumerken. Denn die hatte auf eine stärkere Konkretisierung und Betonung der Menschenrechte verzichtet, da es zwischen Churchill und Stalin nicht zu einer Einigung über die Gleichrangigkeit der politischen und bürgerlichen mit den ökonomischen und sozialen Menschenrechten kommen konnte. Diesen unbefriedigenden Zustand versuchte die Generalversammlung 1948 mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu überwinden, in der nun alle Menschenrechte gleichberechtigt nacheinander aufgeführt wurden. Dies war nur möglich gewesen, weil man sich darauf geeinigt hatte, dass diese Deklaration kein verbindliches Recht schaffe, sondern nur programmatische Forderungen aufstelle. Doch insbes. die nichtpaktgebundenen Staaten, damals unter der Führung Jugoslawiens, verlangten eine verbindlichere Normierung der Menschenrechte. Und so einigte man sich 1967 auf zwei getrennte Pakte, in denen einmal die politischen und bürgerlichen Rechte und in dem anderen die wirtschaftlichen und ökonomischen Rechte verankert wurden. Beiden Pakten, die 1977 in Kraft traten, wurde gleiche Rechtskraft zugesprochen, die sie in der kapitalistischen Realität jedoch nie entfalten konnten. Dennoch wurden in den folgenden Jahren eine Vielzahl multilateraler Verträge zwischen den Staaten zu menschenrechtlichen Problemen abgeschlossen, sodass es rechtlich kaum noch eine Lücke in der Sicherung der Menschenrechte gibt.
Obwohl somit die Menschenrechte Völkerrecht auf der Grundlage zwischenstaatlicher Verträge sind, ist ihre Zielrichtung ausschließlich nach innen, gegen den eigenen Staat gerichtet. Der umfangreiche Kodex menschenrechtlicher Bestimmungen bedeutet eine erhebliche Aufwertung der Rechte der Menschen gegen den eigenen Staat. Seine Souveränität lässt er jedoch unangetastet. Menschenrechte und Staatssouveränität stehen nicht in Widerspruch zueinander. Letztere ist nach wie vor durch das zwingende Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta geschützt. Erst, wenn die Verletzung der Menschenrechte durch den eigenen Staat den internationalen Frieden stört, also spürbare Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen hat, kann der UNO-Sicherheitsrat gem. Art. 39 – 42 UN-Charta zu Mitteln der Intervention greifen.
Der Einbruch in die Souveränität nimmt genau diesen Weg: es geht um die Auflösung des Gewalt- und Interventionsverbots. Dabei werden die Menschenrechte als Hebel, gleichsam als Abrissbirne zur Beseitigung der Souveränitätsmauern um den Staat benutzt, um in das Innere des Staatsgefüges und seiner Gesellschaft einzudringen. Der völkerrechtswidrige Überfall der NATO auf Ex-Jugoslawien im Frühjahr 1999 war das erste und klassisch gewordene Beispiel einer „humanitären Intervention“ zur Behebung einer humanitären Katastrophe im Kosovo. Über Charakter und Ausmaß der Menschenrechtsverstöße dort ist viel gestritten worden. Worüber es keinen Streit geben kann, ist die eindeutige Völkerrechtswidrigkeit der Bombardierung: eine klare Durchbrechung des klassischen Völkerrechts, die keine Grundlage in der UNO-Charta hat.
Ziel dieser Wiederbelebung einer alten kolonialen und im Völkerrecht nach 1945 nicht mehr gültigen Konstruktion („humanitäre Intervention“) ist es, die Staaten aus den Fesseln der normativen Verbote der UNO-Charta zu befreien. Diese erlauben es den Staaten nur in zwei Fällen, die Souveränitätsschranken mit militärischen Mitteln zu durchbrechen: im Falle eines unmittelbaren Angriffs als Selbstverteidigung gem. Art. 51 UNO-Charta oder im Falle der Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat gem. Art. 39, 42 UNO-Charta. Zur Erweiterung dieses Katalogs bedarf es eines neuen Typs Völkerrechts bzw. eines neuen Interpretationsansatzes, den die Völkerrechtler Karl Döhring und Matthias Herdegen mit der Invention eines „konstruktiven Völkerrechts“ glauben, verkaufen zu können. Es geht darum, den Positivismus, der am Wortlaut der Verträge und Normen „klebt“, endgültig durch einen „abwägungsoffenen“ und „dynamischen“ Weg vom „konsensgeleiteten“ Vertragsrecht, welches auch dem Gewohnheitsrecht zugrunde liegt, zu befreien. Die Alternative sei ein wertgebundenes konstruktives Völkerrecht, „das stark von Abwägungsprozessen und der Extrapolation aus universell eindeutig konzedierten Normen lebt“, was immer der Autor Herdegen[1] darunter auch verstehen vermag. Basis dieses von seinem Lehrer Karl Doehring ererbten Versuchs der Aufweichung völkerrechtlicher Bindungskraft ist die Einführung des Wertordnungsansatzes, der „mit der absoluten Dominanz strikt verstandener Prinzipien wie dem Gewaltverbot und der souveränen Gleichheit“ bricht. Wer, wie Herdegen dem „Charme und zugleich Verführungskraft des Wertordnungsansatzes“ erliegt, sollte keine Zweifel darüber haben, wohin das führt: „Das plausibel belegte Risiko des jederzeit denkbaren Einsatzes von Massenvernichtungswaffen in den Händen eines unberechenbaren Regimes oder einer internationalen Terrororganisation trägt eine Erstreckung des Selbstverteidigungsrechts weit im Vorfeld eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs.“ Das ist eine unverhüllte Rechtfertigung für einen Angriff auf den Iran.
Ermöglicht die Ausdehnung der Selbstverteidigung, wie sie auch die National Security Strategy der USA von 2006 propagiert, die gewaltbegrenzende Funktion des Art. 51 UNO-Charta zu unterlaufen, so verfolgt die Ausdehnung des Menschenrechtsschutzes über die Grenzen des Staates hinaus das gleiche Ziel. Ein zentrales Problem für die internationale Friedenssicherung liegt bekanntlich darin, dass das zentrale Organ der UNO, welches mit der Friedenssicherung beauftragt ist, der Sicherheitsrat, in all den vergangenen Kriegsfällen entweder durch offene Umgehung oder durch Erpressung faktisch ausmanövriert wurde. Der Zwang zur Einstimmigkeit der fünf Veto-Mächte war das größte Hindernis für eine Kriegsentscheidung, die die USA in allen drei großen Kriegen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak) erhalten wollte.
Der zur Jahrtausendwende amtierende UNO-Generalsekretär Kofi Annan war selbst kein Freund der „humanitären Intervention“, die er als weitere Legitimation für militärisches Eingreifen verwarf. Aber das Versagen der UNO in Ruanda und Srebrenica haftete wie ein Menetekel an den Wänden der Organisation. Um eine Alternative zu entwickeln, berief er im Jahr 2000 die „International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS)“. Es entstand die berühmte Studie „Responsibility to protect“[2], mit der sich die Kommission für eine Interventionsmöglichkeit in extremen und außergewöhnlichen Fällen der Verletzung von Menschenrechten aussprach. Wenn z.B. ein Staat infolge Bürgerkriegs, eines Aufstandes, interner Unterdrückung oder schwerer Verletzung der Menschenrechte seine Bevölkerung nicht mehr vor großem Leid bewahren könne oder dies auch nicht wolle, greife die Verantwortung der Staatengemeinschaft ein. Das Prinzip der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität müsse in diesen Fällen dem neuen Prinzip der Verantwortung weichen. Damit wird aus der responsibility allerdings noch kein Recht oder gar eine Pflicht (duty) zur Intervention für einzelne Staaten, wie es z.B. von der US-amerikanischen Völkerrechtlerin Anne-Marie Slaughter schon gefolgert wird.
Die Entscheidung zur Intervention ist nach wie vor dem Sicherheitsrat gem. Art. 42 UN-Charta vorbehalten, wenn er zu der Überzeugung kommt, dass die zu beklagende Situation „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ (Art. 39 UN-Charta) darstellt. Auch wenn das Responsibility-Konzept 2005 in einer Resolution der Generalversammlung anerkannt wurde, ist damit nur die Aufforderung an die Staaten verbunden, ihren Schutzverpflichtungen gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung gewissenhafter nachzukommen. Es wird zwar immer wieder die These vertreten, dass das Konzept sich dafür ausspreche, dass im äußersten Fall einzelne Staaten oder „Ad-hoc-Koalitionen“ auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats intervenieren könnten. Abgesehen davon, dass die Studie dazu keine konkrete Formulierung liefert, wäre diese Ansicht auch nicht mit dem geltenden Völkerrecht vereinbar. Denn die Durchbrechung des absoluten Gewalt- und Interventionsverbots in der UNO-Charta ist weder durch einen Kommissionsbericht noch durch eine Resolution der Generalversammlung möglich. Dazu bedarf es entweder der Änderung der Charta mit einer Zweidrittel-Mehrheit der Mitgliedstaaten oder einer gewohnheitsrechtlichen Änderung, die jedoch nur durch eine dauerhafte Praxis der Staaten eintreten kann.
Der Hebel der Menschenrechte ist zu schwach, um das zwingende Gewalt- und Interventionsverbot der Art. 2 Ziff. 4 und 7 UNO-Charta durchbrechen zu können. Die Bedeutung des ius cogens (zwingendes Recht) liegt darin, dass es auch durch Vertragsrecht nicht aufgehoben „und nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann“ (Art. 53 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge). Die beiden Menschenrechtspakte sind jedoch lediglich einfaches vertragliches Völkerrecht ohne zwingenden Charakter. Bei einem Widerspruch zu den Regeln der UNO-Charta gehen diese jedoch vor (Art. 103 UNO-Charta). Die einzig rechtlich aber auch politisch überzeugende Lösung wäre, die sog. humanitäre Intervention als dritte Ausnahme vom Gewaltverbot in die UNO-Charta einzubauen. Dazu bräuchte es jedoch einer Zweidrittel Mehrheit der Stimmen in der UNO-Generalversammlung, die derzeit nicht zu erreichen ist.
So bleibt es vorwiegend den Theologen, Moralisten und Machtopportunisten vorbehalten, die Menschenrechte auch gegen die UNO-Charta zur Durchbrechung des Gewaltmonopols ins Feld führen. Ihnen gesellen sich die Wertordnungsjuristen jetzt hinzu. Dies hat für die Interventionsregierungen den legitimatorischen Vorteil, darauf verweisen zu können, dass die juristische Beurteilung ihres Überfalls nicht eindeutig, sondern umstritten ist.
Ich ordne mich eher den konservativen Positivisten zu, die am Wortlaut der UN-Charta „kleben“. Mir ist dabei bewusst, dass die neue konservative Front in der Politik solche Leute nicht gerne in ihren Reihen sieht, was ebenso verständlich wie akzeptabel ist.
[1] M. Herdegen, Asymmetrien in der Staatenwelt und Herausforderungen des „konstruktiven Völkerrechts“. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 64, 2004, S. 571 – 582, 581.
[2] International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), The responsibility to protect, Ottawa, 2001.