Verdünnung der Zustimmung zum Zwangsgesetz – Demokratie und der Ausweg für Helden im Lissabon Urteil
Donnerstag, 3. Dezember 2009 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
Von Prof. Dr. Andreas Fisahn, Uni Bielefeld
1. Erster Prolog: Recht und die Befugnis zu zwingen
„Recht und die Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“,[1] formuliert Kant in seiner Metaphysik der Sitten. Die Rechtfertigung des Zwanges, Gesetzen zu gehorchen, finden wir auch bei anderen Staatsdenkern. Aber Kant ist immer noch der Säulenheiligen der bundesrepublikanischen Jurisprudenz – folgen wir also kurz seiner Rechtfertigung der Befugnis zu zwingen. Obwohl das Recht mit der Befugnis zu zwingen synonym ist, sei es, meint Kant, mit der Freiheit vereinbar. Einerseits, weil es als allgemeines Gesetz unter Gleichen gilt – also dem Verallgemeinerbarkeitspostulat folgt. Die vorrechtliche Freiheit, die ohne Recht als Recht des Stärkeren die Freiheit des Anderen vernichten kann, wird durch ein allgemeines Gesetz vereinigt, das dem Starken wie dem Schwachen gleiche Freiheit lässt. „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.”[2] Das ist gleichsam die rechtsstaatliche Bedingung der Freiheit. Sie wird – wie Franz Neumann es ausgedrückt hätte – als ethisches Minimum[3] allein durch die formale Allgemeinheit des Gesetzes gewährleistet – freilich unter der Voraussetzung, dass das gleiche Gesetz auf Gleiche angewendet wird. Bei Kant wird die gleiche Freiheit allerdings auf eine kleine Gruppe beschränkt, nämlich auf beruflich selbstständige Männer.
Der zweite Grund dafür, dass die Befugnis zu zwingen und Freiheit vereinbar sind, ist für Kant die Lauterkeit des Ursprungs des Gesetzes. Besser gesagt: nur der lautere Ursprung des Gesetzes rechtfertigt die Möglichkeit des Zwangs. „Nun hat aber die republikanische Verfassung außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. — Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle, oder nicht’, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (…), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“[4] Der reine Quell des Rechtsbegriffs stimmt mit der von Kant angenommenen Bedingung für den ewigen Frieden überein: die Staatsbürger müssen der Verfassung und dem Gesetz zustimmen. Bleiben wir kurz beim ewigen Frieden.
2. Exkurs zum ersten Prolog: Repräsentation und Frieden
Demokratische Republiken, würden wir im heutigen Sprachgebrauch formulieren, führen keine Angriffskriege. So richtig überzeugend scheint das auf den ersten Blick nicht zu sein. Aber: Kant hat insofern Recht, als die Bürgerinnen und Bürger offenbar eher gegen den Krieg stimmen als die Repräsentanten des Staates. In Deutschland und inzwischen auch in den USA sind Mehrheiten der Bevölkerung für einen Abzug der Truppen aus Afghanistan. 63 % der US-Amerikaner hielten im Dezember 2008 den Einsatz im Irak nicht mehr für sinnvoll. Und die Voten gegen die Europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden basierte sicher auch darauf, dass die Normierung der europäischen Militärpolitik im gleichlautenden Art. 42 EUV-Lissabon zum Gegenstand des politischen Diskurses gemacht wurde. Kontrovers diskutiert wurde insbesondere der dritte Absatz: „Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zur Verfügung. … Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Die Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (im Folgenden „Europäische Verteidigungsagentur“) ermittelt den operativen Bedarf und fördert Maßnahmen zur Bedarfsdeckung, … und unterstützt den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten.“ Die „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ lässt sich ohne größere Probleme als Aufrüstungsgebot lesen; schwieriger ist jedenfalls eine Auslegung, die zu einem anderen Ergebnis kommt.
Wenn die Bevölkerung diese Form der Militärpolitik auch ablehnt, das Aufrüstungsgebot selbst konnte nicht Gegenstand der Klage gegen den Lissaboner Vertrag sein: es fehlte dazu die Klagebefugnis. Eingefordert wurde in der Klageschrift der LINKEN die Einhaltung des Parlamentsvorbehalts. Dem ist das BVerfG gefolgt, wenn es ausführt: „Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt kann auch nicht aufgrund von sekundärrechtlich begründeten Handlungspflichten der Mitgliedstaaten umgangen werden. … Selbst wenn aber Art. 43 Abs. 2 EUV-Lissabon weit ausgelegt würde, müsste der Rat einen entsprechenden Beschluss einstimmig fassen (vgl. Art. 31 Abs. 1 und Abs. 4, Art. 42 Abs. 4 EUV-Lissabon). Der deutsche Vertreter im Rat wäre in diesem Fall von Verfassungs wegen verpflichtet, jeder Beschlussvorlage die Zustimmung zu verweigern, die den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes verletzen oder umgehen würde. … Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt könnte in diesem Fall auch nicht durch eine ordentliche Vertragsänderung (Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 EUV-Lissabon), die das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit beseitigte, umgangen werden. Die Bundesrepublik Deutschland dürfte sich von Verfassungs wegen nicht an einer solchen Vertragsänderung beteiligen.“[5] Beim wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt bleibt das Demokratieprinzip gewahrt. Noch etwas sollte notiert werden: Die Repräsentation funktioniert mit Blick auf die „Beistimmung der Staatsbürger“ zum Krieg nur begrenzt, die Repräsentanten entfernen sich in dieser Frage von der Willensbildung der Staatsbürger – Repräsentation birgt immer die Gefahr der Abkopplung der Repräsentanten von den zu Repräsentierenden.
3. Erster Prolog: Die Lauterkeit des republikanischen Gesetzes
Kommen wir zurück zu Kant: die Beistimmung, „ob Krieg sein solle oder nicht“, ist gleichsam ein Unterfall der Beistimmung zu allen gesetzgeberischen Akten: „Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“[6] Die Befugnis zu Zwingen ist nur deshalb mit der Freiheit vereinbar, weil sie auf einem allgemeinen Gesetz basiert, dem diejenigen ihre Beistimmung geben konnten, die im Zweifel gezwungen werden können. Mit der Unterwerfung unter das Recht treten die Menschen, so die bekannte Konstruktion des ursprünglichen Vertrages, der auch Kant folgt, aus dem Naturzustand in den rechtlichen Zustand. Der Eintritt in den bürgerlichen Zustand ist also eine Unterwerfung, nämlich die Unterwerfung unter das Recht und eine Zwangsgewalt, die dieses Recht dann auch durchsetzt. Unterwerfung ist schon begrifflich die Aufgabe von Freiheit, aber Kant argumentiert an dieser Stelle dialektisch: die natürliche Freiheit, die Freiheit des Naturzustandes wird zerstört, gleichzeitig wird Freiheit bewahrt und im rechtlichen Zustand auf eine höhere Stufe der Zivilisation gehoben. Weil die Freiheit auf einer höheren Stufe der Zivilisation bewahrt bleibt, sei es ein Gebot der Vernunft, in den bürgerlichen Zustand einzutreten.
Aber: Bewahrt wird die Freiheit nur dann, wenn das Gesetz, dem sich der Einzelne unterwirft, durch die Lauterkeit seines Ursprungs ausgezeichnet ist, d.h. einem Verfahren entsprungen ist, bei dem jeder einzelne dem Gesetz hat zustimmen können: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“[7]
Die Unterwerfung unter ein Gesetz ist nur dann zu rechtfertigen, wenn die Gesetzgebung einem Prozess entspringt, bei dem jeder seine Stimme hat geben können; wir nennen das heute – anders als Kant – einen demokratischen Prozess. Dann kommt erst der zweite Schritt: Diejenigen, die sich dem Gesetz unterwerfen, d.h. aus dem Naturzustand in den rechtlichen Zustand wechseln und sich Verfahren einer gemeinsamen Gesetzgebung geben, bilden den Staat. Kant formuliert: „Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staats, heißen Staatsbürger (cives), und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennbaren Attribute derselben sind gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat…“.[8] Ganz folgerichtig definiert Kant dann den Staat ohne Rückgriff auf ethnische, kulturelle oder sonstige Kriterien allein über die Unterwerfung unter die Gesetze. Die berühmte Definition lautet: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.“[9] Da Kant in einer Zeit lebte, in denen die Gesetze ausgesprochen selten einen lauteren Ursprung hatten, unterscheidet er die verschiedenen Staatsformen. Staaten mit einem demokratischen Gesetzgebungsverfahren nennt er republikanisch – die Bezeichnung Demokratie hat sich erst später durchgesetzt. Kant folgt noch Aristoteles, für den Demokratie im Despotismus endet, weil es keine Gewaltenteilung gibt. Dadurch wird die Reihenfolge aber nicht verkehrt: erst wird die Freiheit mit dem Gesellschaftsvertrag eine rechtliche, eine bürgerlich abgesicherte, dann folgt die Bezeichnung des neuen Zustandes als republikanischer Staat. Die republikanische Verfassung „ist also, was das Recht betrifft, an sich selbst diejenige, welche allen Arten der bürgerlichen Konstitution ursprünglich zum Grunde liegt.“[10] Despotische Staaten bezeichnet Kant als „Unform“.[11] Niemand würde freiwillig seine ursprüngliche, natürliche Freiheit aufgeben, um sich einem despotischen Staat zu unterwerfen, denn in diesem wird die Freiheit aufgegeben und nicht auf einem höheren Niveau der Zivilisation aufgehoben.
Die Republik ist, so Kant, weiter zu kennzeichnen durch die „Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“[12] – das klingt banal, wird es aber nicht, wenn man die Europäische Union betrachtet. Kant bestimmt den Unterschied so: Die Befehle des Regenten „an das Volk und die Magisträte und ihre Obere (Minister), welchen die Staatsverwaltung (gubernatio) obliegt, sind Verordnungen, Dekrete (nicht Gesetze) (…). Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein.“[13]
4. Zweiter Prolog: Sexualkunde und die Beistimmung des Volkes
Im Jahre 1968 beschloss die Ständige Konferenz der Kultusminister “Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen”. Nach diesen Empfehlungen sollte in den Schulen der Bundesrepublik Sexualkundeunterricht eingeführt werden. Die Hamburger Schulbehörde setzte diese Empfehlung im Jahre 1970 um und erließ “Richtlinien für die Sexualerziehung in den Schulen der Freien und Hansestadt Hamburg”. Die Deputation der Schulbehörde stimmte dem dritten Entwurf der Richtlinien zu. In einer Parlamentsdebatte wurde zwar deutlich, dass alle Fraktionen die Richtlinien billigten.[14] Die Bürgerschaft selbst wurde jedoch nicht tätig.
Das war ein ungeheuerlicher Vorgang. Eltern befürchteten, nun werde Sodom und Gomorrha an den Schulen ausbrechen und erhoben Klage gegen diese Richtlinie, die schließlich beim BVerfG landete. Das BVerfG war schlau und hielt sich aus den moralischen Fragen heraus: „Es ist jedoch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die im Zusammenhang mit der Sexualerziehung in der Schule aufgeworfenen zahlreichen Zweifelsfragen sowohl pädagogisch-didaktischer, psychologischer, medizinischer, gesellschaftspolitischer als auch ethischer und moralischer Natur zu klären.“[15] Folglich seien „keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen zu erheben, wenn der Staat Themen der Sexualität des Menschen zum Unterrichtsgegenstand in der Schule macht.“
Aber der Gesetzgeber, meinte das BVerfG, hätte die Einführung des Sexualkundeunterrichts nicht der Schulbehörde überlassen dürfen, sondern hätte eine gesetzliche Regelung schaffen müssen: „Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verpflichten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen im Schulwesen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen (….). Das gilt insbesondere für die der staatlichen Gestaltung offen liegende Rechtssphäre im Bereich der Grundrechtsausübung (…). Als entscheidender Fortschritt dieser Rechtsauffassung“ führt das Gericht sich selbst lobend aus, „ist es anzusehen, dass der Vorbehalt des Gesetzes von seiner Bindung an überholte Formeln (Eingriff in Freiheit und Eigentum) gelöst und von seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Funktion her auf ein neues Fundament gestellt wird, auf dem aufbauend Umfang und Reichweite dieses Rechtsinstituts neu bestimmt werden können. (…) Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muss oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz. Hier vermittelt der Schutz der Grundrechte einen wichtigen Gesichtspunkt.“[16] Für den Sexualkundeunterricht folgert das Gericht dann: „Die Entscheidung über die Frage, ob ein derartiges Erziehungsvorhaben in der Schule durchgeführt werden sollte, betraf in hohem Maße einen grundrechtsrelevanten Bereich und war für die Ausübung der genannten Grundrechte von großem Gewicht. Es handelte sich somit um eine wesentliche Entscheidung, die der Gesetzgeber selbst treffen musste und die er nicht auf die Schulbehörde delegieren durfte.“[17]
Natürlich gab es eine gesetzliche Ermächtigung im Hamburger Schulgesetz, die aber hielt das Gericht für zu weit gefasst, weil sie als generelle Ermächtigung an die Schulbehörde formuliert war, den Inhalt des Unterrichts zu regeln. Die Schulbehörde sollte durch die Ermächtigungsnorm im Schulgesetz befugt sein, alle wesentlichen Entscheidungen über Bildungs- und Erziehungsziele sowie Lerninhalte der schulischen Fächer zu treffen. Für die Einführung des Sexualkundeunterrichts reiche das nicht, es bedürfe daher einer parlamentarischen Leitentscheidung.
5. Die Demokratie ist abwägungssicher, aber nicht europäisch
„Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig; es ist unantastbar“[18] stellt das BVerfG im Lissabon Urteil fest und stellt damit eine Gleichrangigkeit von Menschenwürde und Demokratieprinzip fest oder vielleicht erst her. Der Ausgangspunkt der Überlegungen zum Prinzip der Demokratie im europäischen Mehrebenensystem ähnelt der Argumentation Kants: „Soweit im öffentlichen Raum verbindliche Entscheidungen für die Bürger getroffen werden, insbesondere über Eingriffe in Grundrechte, müssen diese Entscheidungen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes zurückreichen. … Die Bürger sind danach keiner politischen Gewalt unterworfen, der sie nicht ausweichen können und die sie nicht prinzipiell personell und sachlich zu gleichem Anteil in Freiheit zu bestimmen vermögen.“[19] Es kommt für die demokratische Rückbindung darauf an, ob allgemein verbindliche Entscheidungen für und gegen die Bürger getroffen werden. Es kömmt nicht darauf an, was die politische Gewalt sich dünkt zu sein.
Da die europäische Union offenkundig allgemein verbindliche Entscheidungen trifft, die direkt und indirekt für und gegen die Bürger wirken, stellt sich zunächst die Frage, ob die Institutionen der EU eigenständig in der Lage sind, die allgemein verbindlichen Entscheidungen an den Mehrheitswillen des Volkes zurückzubinden. Dazu wird ausgeführt: „In einer Demokratie muss das Volk Regierung und Gesetzgebung in freier und gleicher Wahl bestimmen können. Dieser Kernbestand kann ergänzt sein durch plebiszitäre Abstimmungen in Sachfragen, die auch in Deutschland durch Änderung des Grundgesetzes ermöglicht werden könnten.“[20] Maßstab der demokratischen Legitimation ist also zunächst die freie und gleiche Wahl der legislativen Repräsentationsorgane. In diesem Punkt ist mit Blick auf das europäische Parlament die Beurteilung der Wahlrechtsgleichheit durch das Gericht unmissverständlich: „Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann.“[21] Zur Begründung wird angeführt: „Das Europäische Parlament bleibt vor diesem Hintergrund in der Sache wegen der mitgliedstaatlichen Kontingentierung der Sitze eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten. Die degressiv proportionale Zusammensetzung“[22] genüge dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit nicht. Es bleibt bei einem Defizit autonomer Europäischer Legitimation, denn: „Das – gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen – bestehende Defizit der europäischen Hoheitsgewalt kann durch andere Regelungen des Vertrags von Lissabon nicht aufgewogen und insoweit nicht gerechtfertigt werden.“[23]
Das Bundesverfassungsgericht beschreibt auf dieser Grundlage den Wertungswiderspruch zwischen Marktordnung und politischer Ordnung, der auch als negative Integration oder Nachhinken der politischen Ordnung hinter der Marktordnung beschrieben werden kann: „Die Konzeption des Binnenmarkts beruht auf der Überzeugung, dass es keinen Unterschied macht, aus welchem Mitgliedstaat eine Ware oder eine Dienstleistung stammt, woher ein Arbeitnehmer oder Unternehmer kommt und welcher Herkunft Investitionen sind. Doch eben dieses Kriterium der Staatsangehörigkeit soll gemäß Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 3 EUV-Lissabon entscheidend sein, wenn die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger in der Europäischen Union zugemessen werden. Damit befindet sich die Europäische Union in einem Wertungswiderspruch zu der Grundlage ihres Selbstverständnisses als Bürgerunion, der nur mit dem Charakter der Europäischen Union als Verbund souveräner Staaten erklärt werden kann.“[24]
Aus diesem Wertungswiderspruch wird nicht abgeleitet, dass die politische Union und insbesondere die Demokratie in der EU gestärkt werden müssten. In dem zitierten Absatz wird die Kompromissstruktur der Entscheidung überaus deutlich. Sie startet als demokratischer Tiger und endet als toter, national-souveränistischer Hund. Man könnte auch sagen, es gilt die alte Skatregel: „wer schreibt der bleibt.“ Der demokratische Ansatz wird – wohl ganz im Sinne des Berichterstatters – national-souveränistisch gewendet. Aus der Tatsache, dass die EU allgemein verbindliche Entscheidungen nicht demokratisch legitimieren kann, folgt für das Gericht nicht, dass der Vertrag verfassungswidrig ist oder dass Anforderungen an die demokratische Legitimation der Union gestellt und weiter entwickelt werden müssen. Vielmehr werden die normativen Ansprüche zurückgeschraubt. Dazu werden zwei wesentliche Argumentationsstränge entwickelt. Erstens: die EU sei kein Staat und deshalb dürften nicht die Anforderungen an eine nationalstaatliche Demokratie gelten. Zweitens finde die demokratische Legitimation durch die Nationalstaaten, konkret durch die nationalen Parlamente und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, statt.
6. Die EU als Nicht-Staat
Das Bundesverfassungsgericht charakterisiert die EU wie gesehen als „Verbund souveräner Staaten“, sie sei eben kein Staat: „Solange und soweit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit gewahrt bleibt“, sei die EU kein Staat.[25] Denn: „Auch der Vertrag von Lissabon hat sich gegen das Konzept einer europäischen Bundesverfassung entschieden, in dem ein europäisches Parlament als Repräsentationsorgan eines damit konstitutionell verfassten neuen Bundesvolkes in den Mittelpunkt träte. Ein auf Staatsgründung zielender Wille ist nicht feststellbar.“[26]
Zunächst ist zu bemerken, dass andere Aussagen des Gerichts in einem unaufgelösten Widerspruch zu dieser Charakterisierung der EU als Nicht-Staat stehen: Die Organarchitektur des Vertrages, erklärt das Gericht, „enthält auch Widersprüche, weil die Mitgliedstaaten mit dem Vertrag dem Baumuster des Bundesstaates folgen, ohne die vertragliche und demokratische Grundlage dafür in der gleichen Wahl einer allein auf die Legitimationskraft eines Unionvolks gestützten repräsentativen Volksvertretung und einer parlamentarischen europäischen Regierung schaffen zu können.“ Wenn die EU aber dem Baumuster eines Bundesstaates folgt, warum ist sie dann kein Staat? Und weiter erklärte das Gericht: „Die Europäische Kommission ist bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts in die Funktion einer - mit Rat und Europäischem Rat geteilten - europäischen Regierung hineingewachsen.“[27] Auch hier stellt sich die Frage: wenn die Kommission in die Rolle einer Regierung hineingewachsen ist, was unterscheidet die EU dann vom Staat? Die Begründung für die Nicht-Staatsthese ist dürftig und wurde schon zitiert: es ist der begrenzte „Einheitswille“ oder „Staatswille“.[28] Der unbefangene Leser fragt sich an dieser Stelle schon, seit wann es darauf ankommt, was einer sein will und nicht darauf, was er ist. „Falsa demonstratio non nocet“, lernt man im Zivilrecht, warum dies bei Staaten anders sein soll, bleibt unergründlich.
Seit Stoibers berühmt gewordenem Gestammel weiß jeder, dass die Kompetenz-Kompetenz möglicherweise relevant ist, um eine politische Institutionenordnung als Staat zu charakterisieren. Das Bundesverfassungsgericht sieht denn auch eine fehlende Kompetenz-Kompetenz bei der EU: „Der Vertrag von Lissabon stattet die Europäische Union schließlich nicht mit Vorschriften aus, die dem europäischen Integrationsverband die Kompetenz-Kompetenz verschaffen.“[29] Diese Behauptung dementiert das Gericht aber sofort selbst. Ein großer Teil der konkreten Ausführungen beschäftigt sich mit der Frage, wie eigenständige, autonome Kompetenzerweiterungen der Union verhindert werden können. Dem Bundestag wird explizit aufgegeben, jede Kompetenzerweiterung durch Flexibilitätsklausel, Brückenklausel, vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren oder in Form der Annexkompetenz zu kontrollieren. Die Abgrenzung zu einer Kompetenz-Kompetenz fällt schwer, insbesondere wenn man bedenkt, dass die deutschen Bundesländer einhellig als Staaten charakterisiert werden, obwohl sie offenkundig nicht in der Lage sind, ihre Kompetenzen auf Kosten des Bundes zu erweitern und vice versa.
An dieser Stelle ließe sich eine Subsumtionsorgie starten, wenn versucht würde, die Merkmale der Europäischen Union unter verschiedene Definitionen des Staates zu subsumieren. Etwa unter die oben zitierte Definition Kants oder unter Jellineks Definition des Staates durch Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt. Das ist zwar ziemlich aufschlussreich und auch amüsant, aber an dieser Stelle nicht weiterführend.
Setzen wir also die Meinung des Gerichts als Prämisse: die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Welche Konsequenzen hat das? Das Bundesverfassungsgericht folgert, dass das Demokratieprinzip „des Grundgesetzes nicht in gleicher Weise auf europäischer Ebene verwirklicht werden muss, wie es noch in den 1950er und frühen 1960er Jahren für zwischenstaatliche Einrichtungen im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG gefordert worden war. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG geht somit davon aus, dass die demokratischen Grundsätze in der Europäischen Union nicht in gleicher Weise wie im Grundgesetz verwirklicht werden können.“[30] Die Logik ist zunächst wieder in sich überraschend. Art. 23 GG soll das unantastbare Demokratieprinzip der Art. 79 III und 20 GG einschränken, indem er eine Reduktion der Demokratie auf der europäischen Ebene erlaubt, die dann durch normative Vorgaben die demokratische Gestaltungsfreiheit national begrenzen darf? Überzeugend ist etwas anderes. Gleichzeitig weist das Gericht selbst darauf hin, dass diese Konzeption von Demokratie hinter die normativen Anforderungen in den 1950er und 1960er Jahren zurückfällt.
Kehren wir noch einmal zurück zu dem zentralen Gedanken der Argumentation: „Das Europäische Parlament ist als ein unmittelbar von den Unionsbürgern gewähltes Vertretungsorgan der Völker eine eigenständige zusätzliche Quelle für demokratische Legitimation. Als Vertretungsorgan der Völker in einer supranationalen und als solche von begrenztem Einheitswillen geprägten Gemeinschaft kann und muss es in seiner Zusammensetzung nicht den Anforderungen entsprechen, die sich auf der staatlichen Ebene aus dem gleichen politischen Wahlrecht aller Bürger ergeben.“[31] Kurz: Wo kein Staat, braucht es keine Demokratie.
Folgen wir dagegen Kants Überlegungen, hätte die Charakterisierung der europäischen Institutionen als Staat oder Nicht-Staat keinerlei Konsequenzen für die Frage der demokratischen Rückbindung oder Legitimation allgemein verbindlicher Entscheidungen mittels der gleichen Möglichkeit zur Beistimmung zu diesen Entscheidungen. Denn unbestritten dürfte wohl sein, dass die EU Rechte setzt, das mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. Wenn das stimmt, braucht es die gleiche Möglichkeit zur Beistimmung zu diesen Gesetzen, ob Staat oder Nicht-Staat. Gibt es diese Möglichkeit nicht, fehlt dem europäischen Recht etwas, nämlich die Lauterkeit seines Ursprungs. In den abstrakten Grundsätzen ist das Gericht Kant durchaus gefolgt: „Soweit im öffentlichen Raum verbindliche Entscheidungen für die Bürger getroffen werden, insbesondere über Eingriffe in Grundrechte, müssen diese Entscheidungen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes zurückreichen.“[32] Im Laufe der Argumentation wird diese Einsicht dann einfach fallen gelassen.
Der spezifische Fetisch der deutschen Jurisprudenz, der Staat, versperrt die Sicht auf die Reihenfolge in Kants Argumentation. Wenn allgemein verbindliche Regeln für eine unbestimmte Menge von Menschen eines Territoriums gesetzt werden, haben wir es mit einem Staat zu tun. Wenn diese Regeln dann noch in einem demokratischen Verfahren beschlossen werden, handelt es sich um einen republikanischen Staat. Die Logik gilt umgekehrt nicht: Weil die Gesetze nicht demokratisch generiert werden, handelt es sich nicht um einen Staat. Und weil wir keinen Staat haben, müssen die Gesetze auch nicht demokratisch beschlossen werden. Das ist wohl eher ein typischer Zirkelschluss.
7. National-parlamentarische Legitimation und begrenzte Einzelermächtigung
Das Bundesverfassungsgericht hat aber noch ein zweites Argument im Köcher. Weil in Europa die verbindlichen Regeln nicht im demokratischen Verfahren generiert werden und – für das Gericht – nicht generiert werden können, bleiben die nationalen Parlamente der Quell der demokratischen Legitimation. Dabei geht das Gericht nicht soweit, zu behaupten, die abgeleitete Legitimation der gewählten Regierung legitimierte europäische Rechtsakte, obwohl auch das anklingt. Das Gericht fordert nämlich, dass „der das Volk repräsentierende Deutsche Bundestag und die von ihm getragene Bundesregierung einen gestaltenden Einfluss auf die politische Entwicklung in Deutschland behalten. Das ist dann der Fall, wenn der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischem Gewicht behält oder die ihm politisch verantwortliche Bundesregierung maßgeblichen Einfluss auf europäische Entscheidungsverfahren auszuüben vermag.“[33] Die abgeleitete Legitimation der Regierung und ihr Einfluss auf „europäische Entscheidungsverfahren“ werden nicht zum zentralen Argument der Entscheidung. Wenn schon der Abstand der Repräsentanten von den Repräsentierten – wie wir oben gesehen haben – Probleme aufwirft, dann erst recht, wenn wir es mit einer zweiten Stufe der Repräsentation und der Verengung der Repräsentation nur auf die Mehrheitsmeinung zu tun haben – das wäre die Repräsentation durch die Regierung. Das Zitat macht allerdings die wirkliche Problematik der Entscheidung gut sichtbar: die national-souveränistische Wendung. Weil Europa nicht demokratisch ist, müssen die Nationalstaaten souverän bleiben. Darauf kommen wir noch zurück.
Die nationalen Parlamente werden in der Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts über die begrenzte Einzelermächtigung zum Quell demokratischer Legitimation. Das zentrale Argument lautet: “Solange und soweit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit gewahrt bleibt, reicht grundsätzlich die über nationale Parlamente und Regierungen vermittelte Legitimation der Mitgliedstaaten aus, die ergänzt und abgestützt wird durch das unmittelbar gewählte Europäische Parlament.“[34] Oder: „Solange die europäische Zuständigkeitsordnung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in kooperativ ausgestalteten Entscheidungsverfahren unter Wahrung der staatlichen Integrationsverantwortung besteht und solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt, kann und muss die Demokratie der Europäischen Union nicht staatsanalog ausgestaltet sein.“[35] Schließlich: „Das Legitimationsniveau der Europäischen Union entspricht im Hinblick auf den Umfang der übertragenen Zuständigkeiten und den erreichten Grad von Verselbstständigung der Entscheidungsverfahren noch verfassungsrechtlichen Anforderungen, sofern das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verfahrensrechtlich über das in den Verträgen vorgesehene Maß hinaus gesichert wird.“[36]
Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wurde bisher verstanden als Mittel der Kompetenzabgrenzung der Union. Die Union darf danach nur dort tätig werden, wo ihr Handeln durch eine im Vertrag zugewiesene Befugnis gedeckt ist und wenn dieses Handeln den allgemeinen Zielen des Vertrages entspricht.[37] Die begrenzte Einzelermächtigung wird charakterisiert als Teil des Subsidiaritätsprinzips oder als Ausdruck der fehlenden Kompetenz-Kompetenz der Union[38], der die Allzuständigkeit fehle[39]. Die Möglichkeit, über das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Legitimation zu vermitteln, wurde bisher nur vereinzelt diskutiert und eher skeptisch beurteilt und als sehr enger Weg der Teillegitimierung verstanden.[40] Die begrenzte Einzelermächtigung unterscheidet sich von Kompetenzzuweisungen im Grundgesetz, weil sie durch ihre „Finale bzw. funktionale Ausrichtung“ eine übergreifende Regulierung gestattet und den Gesetzgeber nicht auf ein Sachgebiet begrenzt.[41] Exemplarisch lässt sich die Kompetenz zur Regulierung des Binnenmarktes nennen (Art. 114 AEUV ex Art. 95 EGV), über die Harmonisierungsvorschriften in anderen Bereichen etwa des Datenschutzes oder der Umwelt erlassen wurden. Das ist mit der Einzelermächtigung vereinbar, mit den Kompetenznormen des Grundgesetzes wäre das unvereinbar.
Die begrenzte Einzelermächtigung lässt sich folglich nicht an den Maßstäben des Art. 80 GG oder den Grundsätzen der Wesentlichkeitstheorie messen. Das Grundgesetz ist darauf angelegt, die Macht der Exekutive zu begrenzen. Das gilt insbesondere für die Befugnisse der Exekutive, allgemein verbindliche Normen zu setzen, was nur unter den Voraussetzungen des Art. 80 GG zulässig ist, das heißt unter der Bedingung, dass die wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden. Diese dem Demokratieprinzip entspringende Begrenzung exekutivischer Normsetzung durch die deutsche Verfassung ist nicht zuletzt auf die Erfahrung mit dem nationalsozialistischen „Ermächtigungsgesetz“ zurückzuführen. Die Mütter und Väter der Verfassung wollten es ausschließen, dass der Deutsche Bundestag seine Rechte an die Exekutive abtritt. Wann die Grenze der innerstaatlichen Ermächtigung oder Selbstermächtigung der Exekutive überschritten ist, hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Sexualkundeunterricht exemplifiziert.
Dagegen wird über das System der begrenzten Einzelermächtigung die nationale und europäische Exekutive im Zusammenwirken im großen Umfang zur Setzung allgemein verbindlicher Normen ermächtigt. Wie über die Zustimmung des nationalen Parlaments zur Einzelermächtigung eine ausreichende demokratische Legitimation der europäischen Gesetzgebung etwa zum Binnenmarkt, im Bereich des Umweltrechts oder gar für Strafnormen hergestellt werden soll, bleibt ein Geheimnis. Die Legitimation über die Zustimmung zur Kompetenzübertragung mittels des Vertrages wird so verdünnt, dass sie das Recht zu Zwingen nicht mehr begründen kann. Weil die Exekutive in Europa ermächtigt wird, nicht nur Dekrete, sondern auch Gesetze zu erlassen, hätte Kant diese Organisationsform folgerichtig als despotisch bezeichnet, denn: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein.“
8. Einzelermächtigung und nationale Souveränität
Die Einzelermächtigungen bilden gleichzeitig die Brücke, um vom Maßstab demokratischer Beistimmung zur Befugnis zu zwingen zur national-souveränistischen Argumentationen zu wechseln. Über die begrenzte Einzelermächtigung, so das Argument, bleiben die nationalen Parlamente nicht nur Quell der Legitimation, vielmehr bleiben die Mitgliedstaaten souverän und Herren der Verträge. So postuliert das BVerfG: „Das Grundgesetz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren.“[42] Prüfungsmaßstab wird so die „Identitätskontrolle“, über die der unantastbare Kerngehalt der „Verfassungsidentität“ vom Gericht überprüft und geschützt werden soll.[43]
In der Maastricht-Entscheidung argumentierte das Gericht auf der Grundlage des geschriebenen Rechts und verstand die nationale Identität ganz nüchtern als „grundlegendes Prinzip der Gemeinschaftsverfassung“.[44] Die Achtung der nationalen Identität wird im Lissabon Urteil von der gegenseitigen Anerkennung auf die Ebene eines hinter dem deutschen Verfassungstext liegenden letzten Ursprungs gehoben. Die nationale Identität wird zum genetischen Urcode, der dem Grundgesetz zugrunde liegt. Mag auch alles verrückt und verschoben werden, den Urcode wird das Gericht schützen. Da der genetische Urcode nicht in der Verfassung aufgeschrieben ist, bleibt es Sache des Genforschers, also des BVerfG, ihn zu finden und zu bewahren. Der Wertehimmel der 1950er Jahre, den das Gericht erst errichtete, um je nach Bedarf die richtigen Werte aus dem Himmel auf die Erde zu holen, schien überwunden zu sein. Mit dem Lissabon Urteil hat das Gericht der Verfassung wieder einen Subtext unterlegt, mit dem es sich selbst ermächtigt, die Grenzen der europäischen Integration zu bestimmen.
Deshalb bleiben, fordert das Gericht, die Mitgliedstaaten „dauerhaft die Herren der Verträge. Die Quelle der Gemeinschaftsgewalt und der sie konstituierenden europäischen Verfassung im funktionellen Sinne sind die in ihren Staaten demokratisch verfassten Völker Europas. Die ‚Verfassung Europas’, das Völkervertrags- oder Primärrecht, bleibt eine abgeleitete Grundordnung. Sie begründet eine im politischen Alltag durchaus weitreichende, aber immer sachlich begrenzte überstaatliche Autonomie.“[45] Umgekehrt: damit das so bleibt, müssen die Mitgliedstaaten erstens einen ausreichenden politischen Gestaltungsspielraum behalten: „Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.“[46]
Zweitens darf die Bundesrepublik nicht ohne Volksabstimmung und Verfassungsrevision in einen europäischen Bundesstaat integriert werden: „Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.“[47] Und: „Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt, müssten demokratische Anforderungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche. Dieses Legitimationsniveau könnte dann nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben sein.“[48] Das hört sich demokratisch an, weil weitere Integrationsschritte eine Volksabstimmung und einen verfassungsgebenden Prozess erfordern, friert aber perspektivisch die europäische Demokratie auf dem gegenwärtigen Niveau ein. Mindestens ebenso problematisch ist, dass damit die gegenwärtige auf neoliberale Standortkonkurrenz zugeschnittene Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten zementiert wird.
Schauen wir uns die Gestaltungsspielräume an, die für die nationale Souveränität nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts konstitutiv sind. „Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind (…). Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis.“[49] Der so beschriebene Gestaltungsspielraum ist offenkundig relativ beliebig gewählt. Er folgt der normativen Kraft des Faktischen, indem vorwiegend Bereiche genannt werden, für welche die EU keine Kompetenz hat oder die den Vorlieben des Berichterstatters entspringen.
9. Wirtschafts- und sozialpolitischer Zynismus
Problematisch wird es, wenn Steuern und Soziales explizit aus der Liste der möglichen EU Kompetenzen gestrichen werden. Zum Verhältnis von nationaler Identität und Steuerrecht formuliert das Gericht: „Eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung des Budgetrechts des Bundestages läge vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde. Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. Entsprechendes gilt für wesentliche Ausgaben des Staates.“ [50] Und zur Sozialpolitik heißt es: „Danach müssen die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der deutschen Gesetzgebungsorgane getroffen werden. Namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen, eine nicht nur im Sozialstaatsprinzip, sondern auch in Art. 1 Abs. 1 GG gegründete Staatsaufgabe, muss weiterhin primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten bleiben, auch wenn Koordinierung bis hin zur allmählichen Angleichung nicht ausgeschlossen ist. Dies korrespondiert mit den rechtlich wie faktisch begrenzten Möglichkeiten der Europäischen Union zur Ausformung sozialstaatlicher Strukturen.“ [51]
Im Bereich des Steuerrechts hat die EU eine Kompetenz im Bereich der indirekten Steuern, die aber einen einstimmigen Beschluss im Rat voraussetzt. Im Bereich der Sozialpolitik erstreckt sich die Kompetenz der Union im Wesentlichen auf Annexkompetenzen zur Wirtschaftsfreiheit, d.h. es geht um Antidiskriminierung. Das betrifft zunächst die Diskriminierung aus Gründen der nationalen Identität, hat inzwischen über die Gleichstellung der Geschlechter auch andere Bereiche der Diskriminierung erfasst. Faktisch bleiben damit Steuern und Soziales im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten.
Wenn aber vom Inhaltsstoff des Bieres über die Rücklichter eines Mofas und die erlaubten Emissionen von Industrieanlagen bis zur europaweiten Ausschreibung staatlicher Aufträge der Binnenmarkt harmonisiert ist, findet die Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten in den nicht harmonisierten Bereichen statt. Das sind dann Steuern und Soziales. Und in der Tat lässt sich in diesen Bereichen ein enormer Konkurrenzdruck auf die Politik in den Mitgliedstaaten feststellen, ein Druck im Sinne eines race to the bottom. Das Argument ist bekannt: Wenn in Tschechien nur 25 % Unternehmenssteuern erhoben werden, muss die Bundesrepublik ihre Steuern senken, um den Standortvorteil auszugleichen.
Das ist eine absichtsvolle Auslassung, die der deutschen Konzeption der europäischen Architektur folgt: Europa bleibt ein Binnenmarkt. Die französischen Vorschläge, eine europäische Wirtschaftsregierung zu schaffen, die auch Zugriff auf die Währung hat und die Europäische Zentralbank ihrer unabhängigen Stellung beraubt, werden von Deutschland scharf zurückgewiesen. Der Freihandel liegt im Interesse der exportorientierten deutschen Wirtschaft, substanzielle Regulierungen selbst der Finanzmärkte werden dagegen abgelehnt. Das Lissabon-Urteil zementiert die von der deutschen Wirtschaft favorisierte und von der deutschen Politik vertretene neoliberale Ausrichtung der europäischen Konstitution. Die Beschränkung demokratischer Gestaltungsfreiheit auf europäischer wie auf nationaler Ebene durch die wirtschaftspolitischen Festlegungen der Europäischen Verträge prüft das Gericht nur unter dem Gesichtspunkt Sozialstaat und EU.
Die LINKE hatte vorgebracht, dass es ein wesentliches Element der Demokratie ist, für einen politischen Richtungswechsel zu streiten und den dann auch durchsetzen zu können. Das ist innerhalb der europäischen Union nicht möglich, weil die Verträge auf eine neoliberale Wirtschaftsordnung festgelegt sind. Dazu gehört etwa und inzwischen für jeden offenkundig an zentraler Stelle die Verpflichtung zur Liberalisierung der Kapital- und Finanzmärkte gemäß Art. 63 ff AEUV, die selbst einen Rückschritt der Liberalisierung in den Beziehungen zu Drittstaaten verbietet. Eine demokratische Wirtschaftsordnung müsste sowohl die Unabhängigkeit der EZB wie die Finanzmarktliberalisierung oder das aus der Dienstleistungsfreiheit abgeleitete Verbot von Tariftreueklauseln[52] in staatlichen Aufträgen umkehren und würde schließlich die demokratische Kontrolle von Unternehmensentscheidungen vor die Kapitalsverkehrsfreiheit stellen, die dem Kapitalanteil entsprechende Mitentscheidungsrechte[53] implizieren soll.
Die Demokratie, hatte die LINKE argumentiert, wird in ihrer Substanz entleert, wenn ein politischer Richtungswechsel in zentralen Fragen, nämlich Fragen der Wirtschaftspolitik, primärrechtlich ausgeschlossen wird. Das Gericht verkürzte dies zu folgender Fragestellung: „Die von den Beschwerdeführern zu V. vorgetragene Behauptung, die europäische Wirtschaftspolitik sei reine Marktpolitik ohne sozialpolitische Ausrichtung und beschränke mit ihrem funktionellen Ansatz die Möglichkeiten der Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten, eine selbstbestimmte Sozialpolitik zu betreiben, ist unzutreffend.“[54] Dabei versteigt sich das Gericht in der Begründung zu der These, dass das von den Gewerkschaften europaweit scharf kritisierte Viking-Urteil des EuGH[55] Teil des europäischen Sozialstaates sei. Wörtlich: „In der Entscheidung vom 11. Dezember 2007 stellte der Gerichtshof sogar die Existenz eines europäischen Streik-Grundrechts fest.“[56] Dadurch haben die Gewerkschaften allerdings nicht viel gewonnen, denn ein nationales Streikrecht gibt es in allen Mitgliedstaaten. Sie haben verloren, weil dieses mit der Dienstleistungsfreiheit abgewogen werden soll und möglicherweise weichen muss. Dies als Teil des Sozialstaates zu feiern, ist geradezu zynisch.
Die wirtschaftspolitische Kompetenz scheint im Gericht eher ein Schattendasein zu fristen. Die Schatten fallen auf die 60 % der Menschen, die Europa für fern, kalt und fremd halten und deshalb nicht wissen, warum sie wählen sollen. Die Gewerkschaften gehören in Europa nicht mehr zur Elite, deren Diskurse zu beachten sind. Die neoliberale Marktordnung ist auch für das BVerfG sakrosankt, das damit der europäischen Marktstrategie eines Teils der deutschen Eliten oder der herrschenden Klasse geradezu Verfassungsrang einräumt.
10. Praktische Folgen: Kompetenzerweiterungen und enge Auslegung im Strafrecht
In der Konstruktion des BVerfG legitimieren im Wesentlichen die nationalen Parlamente über das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung die europäische Gesetzgebung. Folgerichtig muss es ausgeschlossen werden, dass die Union ihre Kompetenzen autonom erweitern kann. Jede Kompetenzerweiterung bedarf eines nationalen Zustimmungsgesetzes. Einfallstore für eine autonome Kompetenzerweiterung im Lissabon Vertrag sind das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren[57] sowie Flexibilitäts[58]- und Brückenklauseln[59]. Für die Anwendung der Brückenklausel im Bereich des Strafrechts wird beispielsweise gefordert: „Soweit die Europäische Union im Bereich der Strafrechtspflege (…) das allgemeine Brückenverfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV-Lissabon anwenden möchte, um von der im Rat erforderlichen Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit überzugehen, müssen die für das allgemeine Brückenverfahren dargestellten Erfordernisse gelten. Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat darf einer Vertragsänderung nur zustimmen, wenn der Deutsche Bundestag und der Bundesrat innerhalb einer noch auszugestaltenden, an die Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon angelehnten Frist ein Gesetz im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erlassen haben. Dies gilt gleichermaßen für den Fall, dass der Sachbereich der Bestimmung weiterer Kriminalitätsbereiche nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV über das allgemeine Brückenverfahren von der Einstimmigkeit in den qualifizierten Mehrheitsentscheid überführt werden sollte.“[60]
Das deutsche Begleitgesetz zum Lissabon Vertrag, das gab das BVerfG dem Gesetzgeber auf, muss so geändert werden, dass in diesen Fällen der autonomen Kompetenzerweiterung der Bundestag durch Gesetz zustimmen muss. Das Begleitgesetz hat die Vorgaben des BVerfG eins zu eins umgesetzt, d.h. der Bundestag hat auf generelle Regelungen verzichtet und nur dort ein Gesetzgebungsverfahren eingeführt, wo es explizit gefordert war. Insbesondere wurde auf eine Verallgemeinerung des vom BVerfG geforderten „imperativen Mandats“ verzichtet.
Um das deutsche Parlament an den Entscheidungen der Regierung im Rat der EU zu beteiligen, hat das BVerfG – eher nebenbei – eine neue Konstruktion entwickelt; nämlich ein imperatives Mandat des Bundestages an die Bundesregierung. Dieses soll in Fällen des sog. Notbremseverfahrens gelten. Ein solches ist z.B. im Bereich des Strafrechts in Art. 82 III und Art. 83 III AEUV normiert. Letzterer lautet: „Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass der Entwurf einer Richtlinie nach den Absätzen 1 oder 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, so kann es beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt. Nach einer Aussprache verweist der Europäische Rat im Falle eines Einvernehmens den Entwurf binnen vier Monaten nach Aussetzung des Verfahrens an den Rat zurück, wodurch die Aussetzung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beendet wird.“
Weil nach einem Veto des zuständigen Ministers im Rat das ordentliche Gesetzgebungsverfahren mit Mehrheitsentscheidung ausgesetzt und an den Europäischen Rat verwiesen wird, der seinerseits Einvernehmen herstellen muss, wird über die Notbremse faktisch ein Vetorecht des Mitgliedstaates eingeführt. Das Verfahren erlaubt dem „Vertreter eines Mitgliedstaates im Rat (…), gestützt auf ‚grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung’, mit seinem Veto strafrechtsbedeutsame Richtlinien jedenfalls für sein Land zu verhindern.“[61]
Deshalb postuliert das Gericht in einer eher missverständlichen Formulierung: „Das notwendige Maß an demokratischer Legitimation über die mitgliedstaatlichen Parlamente lässt sich aus dem Blickwinkel des deutschen Verfassungsrechts nur dadurch gewährleisten, dass der deutsche Vertreter im Rat die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV genannten mitgliedstaatlichen Rechte nur nach Weisung des Deutschen Bundestages (…) ausübt.“[62] Wörtlich hieße dies ja, der Minister dürfe sein Veto nur auf Weisung des Parlaments einlegen. Es ist aber wohl umgekehrt gemeint. Wenn der Bundestag entsprechend anweist, muss der Minister das Veto einlegen. Entsprechend lautet auch die Formulierung im Integrationsverantwortungsgesetz, dem neuen Begleitgesetz.[63]
Das gleiche gilt für den Gebrauch der strafrechtlichen Annexkompetenz in Art. 82 II und 83 II AEUV. Letzterer lautet: „Erweist sich die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, so können durch Richtlinien Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen auf dem betreffenden Gebiet festgelegt werden.“ Dazu führt das BVerfG aus: „Insgesamt nähert sich die konkretisierende Ausfüllung der Ermächtigungen nach Art. 82 Abs. 2 sowie Art. 83 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV in der Bedeutung einer Vertragsänderung an und verlangt nach einer entsprechenden Ausübung der Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane im Rahmen des Notbremseverfahrens.“[64] Diese „Integrationsverantwortung“ soll dann durch das vorher erläuterte Weisungsrecht wahrgenommen werden.
Das Weisungsrecht wurde vom BVerfG auch für die anderen Fälle von Notbremsemechanismen gefordert. Dabei ist zu bemerken, dass ein Weisungsrecht, d.h. ein imperatives Mandat an die Bundesregierung, eine fundamentale Neuerung in der deutschen Staatsrechtslehre darstellt. Bisher ging man davon aus, dass der Regierung in verschiedenen Bereichen, u.a. der Außenpolitik, ein Gestaltungsspielraum in eigenständiger Verantwortung zur Verfügung stehe. Das war aus der Sicht einer halbwegs demokratischen Konzeption des Staatsstrukturprinzips Demokratie schon immer problematisch. Denn wie sollte der eigenständige Raum, der sich einer demokratischen Programmierung entzieht, gerechtfertigt werden, außer durch Rückgriff auf angestammte Funktionen der Regierung im keineswegs so demokratischen Staatswesen der deutschen Geschichte. Das BVerfG erkennt nun an: solche Freiräume gibt es nicht. Die Exekutive unterliegt auch in außenpolitischen Handlungen den Weisungen der Volksvertretung.
Wenn man den Ansatz des imperativen Mandats weiterdenkt, dann stellt sich allerdings die Frage, inwieweit es überhaupt noch Regelungsmaterien gibt, die einer parlamentarischen Weisung entzogen sind. Sie würden das demokratische Niveau jedenfalls der Europäischen Entscheidungen, soweit sie Deutschland betreffen, deutlich heben. Das berühmte Spiel über Bande, bei dem die Regierung dem Parlament Europarecht vorsetzt, gegen das es auf nationaler Ebene revoltiert hat (z.B. Vorratsdatenspeicherung), wäre damit ausgeschlossen. Man könnte natürlich auch fragen, wo logisch die Verpflichtung der Regierung aufhört, vor wesentlichen Entscheidungen im Rat eine Weisung des Parlaments einzuholen. Außer durch seine beanspruchte Autorität und die aufgezählten Fallvarianten begründet das BVerfG jedenfalls kein relevantes Abgrenzungskriterium. Denn schließlich sind wirtschaftspolitische Entscheidungen oft für eine Vielzahl von Menschen erheblich relevanter als Strafnormen. Aber der Deutsche Bundestag ist kleinmütig und hat sich im Intergationsverantwortungsgesetz bescheiden auf das Weisungsrecht in den vom BVerfG vorgegeben Fällen beschränkt.
Im Bereich des Strafrechts wählt das Gericht eine Mischung aus parlamentarischer Weisung und restriktiver, verfassungskonformer Auslegung der europäischen Kompetenzen, über die es sich selbst wieder in die Rolle eines Kontrolleurs europäischer Strafnormen katapultiert. Die enge Auslegung des Vertrages und der europäischen Kompetenzen seien „der Entscheidung des deutschen Vertreters im Rat zugrundezulegen, wenn ein Beschluss im Bereich der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen sowie allgemein des Strafverfahrensrechts gefasst werden soll. Im Hinblick auf den Bereich der Annexzuständigkeit, die eine Angleichung des Strafrechts in bereits harmonisierten Politikbereichen ermöglicht (Art. 83 Abs. 2 AEUV), kann das Zustimmungsgesetz nur deshalb als verfassungskonform beurteilt werden, weil diese Zuständigkeit nach dem Vertrag eng auszulegen ist.“[65]
Und für den neuen Kompetenzbereich Strafnormen zu erlassen führt das Gericht aus: „Entsprechend begrenzend ist die allgemeine Ermächtigung zur Festlegung von Straftaten und Strafen nach Art. 83 Abs. 1 AEUV auszulegen. Dafür steht bereits der Katalog besonders schwerer Straftaten des Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV und die Voraussetzung, dass es sich um besonders schwere Kriminalität handeln muss, die aufgrund der Art oder der Auswirkung der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Der Katalog macht deutlich, dass es sich um typischerweise grenzüberschreitende schwere Kriminalitätsbereiche handelt, für die Mindestvorschriften, die den Mitgliedstaaten substantielle Ausgestaltungsspielräume belassen müssen, festgelegt werden dürfen.“[66] Eine Erweiterung des Katalogs bedürfe eines Zustimmungsgesetzes im Bundestag, und weil über Art. 79 III GG die Menschenwürde der Ewigkeitsklausel unterfällt und die Menschenwürde ihrerseits das Schuldprinzip beinhalte, müssen „die Zuständigkeiten der Europäischen Union im Bereich der Strafrechtspflege (…) zudem in einer Weise ausgelegt werden, die den Anforderungen des Schuldprinzips genügt. Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz.“[67]
Die Ausführungen machen vor allem eines deutlich: Das Gericht traut mit Blick auf das Strafrecht seiner eigenen Konstruktion nicht – weder der Konstruktion demokratischer Rechtfertigung noch der Konstruktion national-souveränistischer Verfassungsidentität. Die strafrechtliche Einzelermächtigung in Art. 83 AEUV ist im Vergleich zu anderen Ermächtigungen relativ konkret gefasst. Dennoch umfasst sie weite Kriminalitätsbereiche, wie die Aufzählung deutlich macht. Dazu gehören: „Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.“ Darauf lässt sich eine Fülle von strafrechtlichen Normen stützen, übrig bleibt fast nur die „Alltagskriminalität“. Das zukünftige EU Strafrecht soll durch die Zustimmung des Bundestages zu Art. 83 AEUV ausreichend demokratisch legitimiert sein? Das Gericht zweifelt wohl selbst und flüchtet in die enge Auslegung. Nicht verständlich ist auch, warum Kompetenzen wie Bildung, Familie und Kultur zu den Kernkompetenzen des Staates gehören, also die Verfassungsidentität definieren und nicht übertragbar sind, während die wichtigen Teile des Strafrechts an die EU übertragen werden können.
Den Vertrag musste das Gericht passieren lassen: Er sichert nicht vorrangig die Handlungsfähigkeit der EU, sondern stärkt die Rolle der großen Mitgliedstaaten, die ihre Politik nun mit Mehrheit beschließen können. Die neuen osteuropäischen Mitglieder bleiben verfügbarer Raum, der als Markt und als Hebel zur Lohndrückerei genutzt werden kann. Die Neufassung der Begleitgesetze blieb da der Ausweg für Helden.
[1] Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre §E, S. 340.
[2] Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § B, S. 337.
[3] Neumann, F., Die Herrschaft des Gesetzes, S. 327; ders., Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, S. 30; dazu: Samuel S. (Hg.), Kritische Theorie des Staates. Staat und Recht bei Franz L. Neumann; Fisahn, A., Eine kritische Theorie des Rechts, S. 91 ff.
[4] Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 127f.
[5] BVerfG vom 30.6.2009, http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html, Rnr. 386.
[6] Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 126.
[7] Kant, Metaphysik der Sitten, § 46, S. 432.
[8] Kant, Metaphysik der Sitten, § 46, S. 432.
[9] Kant, Metaphysik der Sitten, § 45, S. 431.
[10] Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 127.
[11] Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 129.
[12] Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 1228 f.
[13] Kant, Metaphysik der Sitten, § 49, S. 435.
[14] VII. Wahlperiode, Plenarprotokolle zu den Verhandlungen, Bd. 5, 70. Sitzung am 5. Juli 1972, S. 3703 f. [3707].
[15] BVerfGE 47, 46; http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv047046.html, Rnr. 87.
[16] BVerfG a.a.O., Rnr. 115 ff.
[17] BVerfG a.a.O., Rnr. 121.
[18] BVerfG vom 30.6.2009, http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html, Rnr. 216.
[19] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 212.
[20] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 270.
[21] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 280.
[22] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 284.
[23] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 289.
[24] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 287.
[25] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 262.
[26] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 277.
[27] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 296 f.
[28] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 271 und 277.
[29] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 322.
[30] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 266 f.
[31] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 271.
[32] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 212.
[33] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 246.
[34] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 262.
[35] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 272.
[36] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 275.
[37] Jarass, H.d., Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: AöR 121, 1996, S. 174; Oppermann, Th., Europarecht (München 2005), Rnr. 63; Borries, R.v., Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der europäischen Union, in: Europarecht 1994, S. 267; Kraußer, H. P., Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages (Berlin 1991), S. 16 ff; Geiger, R., EUV / EGV (München 2004), Art. 5 EGV, Rnr. 2; Streinz, R., in: Streinz (HG.), EUV / EGV (München 2003), Art. 5 EGV, Rnr. 7.
[38] Borries, R.v., Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der europäischen Union, in: Europarecht 1994, S. 267.
[39] Callies, Ch. in: Callies / Ruffert, Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – EUV 7 EGV (Neuwied, Kriftel 2002, Art. 5 EGV, Rnr. 12.
[40] Kraußer, H. P., Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, S. 29 f.
[41] Jarass, H.d., Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: AöR 121, 1996, S. 178.
[42] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 226.
[43] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 240.
[44] BVerfGE vom 12.10.1993, 89, 155 / 212.
[45] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 231.
[46] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 249.
[47] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 228.
[48] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 263.
[49] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 249.
[50] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 256.
[51] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 259.
[52] EuGH, Rs. C-346/06.
[53] EuGH Rs. C-282/04; EuGH, Rs. C-112/05, EuGH Rs. C-367/98; EuGH Rs. C-483/99; EuGH, Rs. C-503/99.
[54] BVerfGE vom 30.6.2009, Rnr. 393.
[55] EuGH, Rs. C-438/05.
[56] BVerfGE vom 30.6.2009, Rnr. 398.
[57] Art. 48 Abs. 6 EUV.
[58] Vgl. Art. 352 AEUV.
[59] Das allgemeine Brückenverfahren findet sich in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 4 EUV, hinzu treten spezielle Brückenklauseln: Art. 31 Abs. 3 EUV-Lissabon – Beschlüsse über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in anderen als den in Art. 31 Abs. 2 EUV-Lissabon genannten Fällen; Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 und UAbs. 3 AEUV - Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug; Art. 153 Abs. 2 UAbs. 4 AEUV – Maßnahmen in bestimmten Bereichen des Arbeitsrechts; Art. 192 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV – Maßnahmen im Bereich der Umweltpolitik; Art. 312 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV – Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens; Art. 333 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV – Abstimmungsverfahren im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 326 ff. AEUV.
[60] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 366.
[61] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 358.
[62] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 365.
[63] § 9 InTVG Notbremsemechanismus: (1) Der deutsche Vertreter im Rat muss in den Fällen des Artikels 48 Absatz 2 Satz 1, des Artikels 82 Absatz 3 Unterabsatz 1 Satz 1 und des Artikels 83 Absatz 3 Unterabsatz 1 Satz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union beantragen, den Europäischen Rat zu befassen, wenn der Bundestag ihn hierzu durch einen Beschluss angewiesen hat.
[64] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 365.
[65] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 360 f.
[66] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 363.
[67] BVerfG vom 30.6.2009, Rnr. 364.