Visionen sind Pflicht
Samstag, 4. April 2009 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
Rede von Wolfgang Neskovic bei der Anhörung der Linksfraktion zu sozialen Grundrechten am 1. April 2009
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Konferenzteilnehmerinnen und Teilnehmer,
in unserem Einladungstext heißt es offenherzig:
“Alle bisherigen Versuche, einklagbare soziale Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, sind gescheitert.”
Dennoch kommen wir heute zusammen, um über die Einführung klagbarer sozialer Rechte in die Verfassung zu beraten. Wir sind ganz offenbar trotzig. Wir werden nicht müde. Wir sind nicht bereit, uns abzufinden mit dem Gegebenen. Genau das ist unsere originäre Aufgabe als Linke. Nicht, weil uns diese Aufgabe so gut gefällt. Sondern, weil die Gesellschaft eine politische Kraft braucht, die sie weiter entwickeln will. Ich möchte den Versuch unternehmen, genau diese schwierige Aufgabenstellung zu ergründen und zu begründen.
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Sie kennen sicherlich Ernst Bloch oder haben schon von ihm gehört. Ernst Bloch war Professor für Philosophie. Er lehrte an der Leipziger Universität. Er wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen am Rhein geboren und starb am 4. August 1977 in Tübingen. Eines seiner Lieblingswörter war das Wort Hoffnung, ein anderes das Wort Utopie.
Für ihn war „Utopie“ ein wissenschaftlicher Begriff. Zwei Dinge machen diesen Begriff aus. Erstens: die unerhörten Anstrengungen, die es uns Menschen kostet, im Kopf eine Welt zu denken, die wir in der Realität noch nicht erfahren können. Zweitens: die Pflicht des Menschen, diese Anstrengungen dennoch auf sich zu nehmen. Erst diese Anstrengungen machen uns menschlich.
Bloch hätte vermutlich gesagt: „Wer keine Visionen hat, der soll zum Arzt gehen. Es fehlt ihm etwas. Er braucht dringend Hilfe.“
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Wir werden diskutieren über die demokratische Veränderbarkeit unserer Gesellschaft. Sie soll gerechter werden. Sozialer. Sie soll dem Einzelnen eine Rechtsposition einräumen, mit der er seine soziale Existenz wirksam verteidigen kann. Wir werden uns fragen, ob das Grundgesetz für diese demokratische Transformation überhaupt taugt. Wir werden wissen wollen, welche textlichen Änderungen wir in der Verfassung benötigen, um diese Transformation zu ermöglichen. Wir werden dabei reden müssen über die Werte der Freiheit und der Gleichheit und ihr Verhältnis untereinander. Wir reden heute als Linke über das Morgen und damit über das, was noch keine Wirklichkeit ist. Wir sprechen also über Utopien.
In Verfassungen, auch im Grundgesetz, finden wir Utopien. Denn in Verfassungen entdecken wir stets die Grundvorstellung einer Gesellschaft, die es noch nicht gibt, wenn die Verfassung geschrieben wird. Die Verfassung ist also nicht der Schlussstein, sondern der Grundstein eines gesellschaftlichen Gebäudes.
Als die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Grundstein für die westdeutsche Gesellschaft entwarfen, taten sie das inmitten einer Trümmerlandschaft. Der Krieg, den Hitlerdeutschland in die Welt getragen hatte, war zurückgekehrt. Er brachte Tod, Leiden, Hunger und Elend heim. Die Industrie war zerstört, die Landwirtschaft lahmgelegt, die Infrastruktur am Boden. Alles sprach dafür, dass Deutschland für sehr lange Zeit ein wirtschaftlich armes Land bleiben würde. Nichts sprach für ein Wirtschaftswunder. Die westdeutschen Verfassungseltern der Jahre 48/49 rechneten nicht mit Wundern. Sie rechneten mit dem Schlimmsten.
Welche Verfassung also gibt man einer elenden Trümmerwelt? Die Bauplanersteller entschieden sich für eine demokratische, rechtsstaatliche und soziale Verfassung. Sie formulierten eine vorsichtige Utopie des sozialen Staates. In gleichem Rang mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus fügten sie den Sozialstaat als tragendes Element in das neue Staatsgebäude ein:
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ heißt es in Artikel 20, Absatz 1 Grundgesetz.
Auch die einzelnen Bundesländer verpflichteten sie in Artikel 28 Grundgesetz auf den Grundsatz des „sozialen Rechtstaats“. Und in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz unterwarfen sie auch das Sozialstaatsprinzip der so genannten Ewigkeitsklausel. Diese Bestimmung ist weltweit einmalig. In ihr spiegelt sich das tiefe Misstrauen der Mütter und Väter des Grundgesetzes gegenüber den nachfahrenden Generationen wider. Sie verbietet die Änderung bestimmter Kerngedanken des Grundgesetzes und schreibt diese so auf „ewig“ fest – zumindest, solange das Grundgesetz gilt. Zu diesen Kerngedanken also gehört auch das Sozialstaatsprinzip.
Deswegen ist derjenige, der meint, wir könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten, ein Verfassungsfeind, bestenfalls ein Verfassungsignorant.
Diese Ignoranz wird allerdings befördert durch die gegenwärtige Struktur des Grundgesetzes. Mit den Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, der Demokratie und des Föderalismus verfuhren die Verfassungseltern viel präziser, als mit dem Sozialstaatsprinzip. Sie schufen eine Fülle von Vorschriften, die die Demokratie beschreiben und absichern. Sie schrieben konkrete Freiheitsrechte in die Verfassung, die dem Einzelnen Schutz vor der Willkür des Staates verschaffen. Sie erfanden die Verfassungsbeschwerde, mit der sich Jedermann gegen die Verletzung seiner individuellen Freiheiten wirksam wehren kann. Sie konstruierten eine fein abgestimmte Machtverteilung und Machtkontrolle zwischen den obersten Institutionen des Staates und zwischen dem Bund und den Ländern.
Doch die Verfassungseltern präzisierten nicht die Pflicht des Staates zur sozialen Aktivität. Sie schufen auch keine einklagbaren sozialen Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger. Vielleicht fehlte es ihnen an Mut. Vielleicht vermieden sie nur Übermut in einer elenden Trümmerwelt. Mehr wagten sie jedenfalls für die soziale Zukunft nicht zu hoffen.
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Während man über diese Utopie noch beriet, kehrte der Philosoph Ernst Bloch nach Deutschland heim. Er war vor den Nazis durch ganz Europa und dann in die USA geflohen und nun ging es ihm wie Thomas Mann, wie Helene Weigel, wie Berthold Brecht. Wer seinerzeit nach Deutschland heimkehren wollte, musste ein Deutschland dafür wählen. Bloch wählte sein Deutschland.
Ein Jahr vor den abschließenden Beratungen des Grundgesetzes folgte Bloch einem Ruf an die Leipziger Universität als Professor für Philosophie. Im Gepäck hatte er sein Hauptwerk dabei. Er hatte es während des Exils in den USA verfasst. Das Hauptwerk trägt einen Titel, der so gar nicht in das Jahr 1948 zu passen scheint: „Das Prinzip Hoffnung.“ Das zweite Lieblingswort des Philosophen: Hoffnung!
Hoffnung bedeutet für Bloch nicht das Bauen von Luftschlössern oder die Pflege von Wunschbildern. Bei ihm ist die Hoffnung kein Träumen, sondern die erste Tat für den Aufbruch in die Zukunft. Menschen, die hoffen, machen sich frei von den Schranken des Denkens ihrer Gegenwart. Sie gewinnen damit die Fähigkeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Wer dagegen nicht hofft, wird niemals wissen können, wofür er kämpfen soll.
Bloch hoffte auf eine sozialistische Gesellschaft, in der die Gleichen frei sind und die Freien gleich.Und er kämpfte für diese Gesellschaft sein Leben lang. In Leipzig lehrte er seine Studenten, dass es einmal eine große humane Utopie gegeben hatte, die dann leider in zwei Hälften zerbrochen war. Die große humane Utopie sei es gewesen, von den Menschen gleichermaßen das Elend und die Entrechtung zu nehmen. Die Sozialen Utopisten haben den Menschen nur das materielle Glück bringen wollen. Die utopischen Naturrechtler dagegen wollten den Menschen allein die rechtliche Freiheit verleihen.
Für fast 2000 Jahre verloren so die Utopisten alle Schlachten, die sie getrennt schlugen. Viel zu selten verbündeten sie sich. In der französischen Revolution marschierten sie vereint und gewannen für kurze Zeit den Kampf um das Humane. Nicht umsonst enthielt die erste Jakobinerverfassung folglich auch ein Recht auf Brot und Arbeit.
Doch schon im frühen 19. Jahrhundert zerfiel der Humanismus erneut. Er spaltete sich in die liberale und die sozialistische Bewegung. Der Liberalismus richtete sein Hoffen auf die Befreiung des Menschen von staatlicher Erniedrigung und Entrechtung. Der Sozialismus kämpfte für die Befreiung des Menschen von Elend und Mühsal. Dieses ewige Schisma unter Brüdern wollte Bloch als Marxist endlich überwinden. Darauf richtete sich sein Hoffen. Die Befreiung des Menschen könne nur glücken, wenn der Mensch unter Gleichen in Freiheit lebe.
Bloch sagte seinen Studenten in Leipzig Sätze wie den folgenden: „Die sozialistische Oktoberrevolution ist gewiss nicht dazu bestimmt gewesen, dass die fortwirkenden, in der ganzen Westwelt erinnerten demokratischen Rechte der französischen Revolution zurückgenommen werden (…).”
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In der „Westwelt“ Deutschlands hatte man die demokratischen Rechte der französischen Revolution weitgehend gesichert. Die soziale Oktoberrevolution dagegen empfand man als fortwirkende, ernste Bedrohung. Das Schisma, das Bloch beschrieben hatte, war zu einem nationalen Schisma der Deutschen geworden. Zwischen dem Reich der Freien und dem Reich der Gleichen verlief der Stacheldraht.
Doch auch in der Bundesrepublik hatte man sich mit der Sozialstaatlichkeit eine eigene, bescheidene soziale Utopie gegeben. Diese Utopie war klein auf dem Papier der Verfassung. In der Wirklichkeit wuchs sie sich jedoch ganz beachtlich aus. Das lag nicht nur daran, dass die Bundesrepublik sich aus der Asche zu einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt entwickelte. Es lag auch daran, dass man im Osten des Landes ein Paradies der sozialen Gleichheit versprach. Am 17. August 1956 formulierten die Richter des Bundesverfassungsgerichts eine großzügige Interpretation des schmalen sozialen Verfassungstextes.
Ich zitiere:
„Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern.“
Es ist ein Satz, der im Bundestagswahlprogramm der LINKEN stehen könnte, ja müsste. Es ist aber auch ein Satz, dessen Hintergrund noch bemerkenswerter ist, als sein Inhalt. Denn der Satz stammt nicht aus einer der vielen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zum Umfang der bundesdeutschen Sozialstaatlichkeit. Die Passage entstammt vielmehr der Begründung eines Urteiles, mit dem das Gericht die Kommunistische Partei Deutschlands verbot.
Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Das Gericht versprach der Gesellschaft, dass es unnötig sei, für das Ziel sozialer Gleichstellung den demokratischen Staat zu stürzen. In einem reichen Land sei das Optimum zwischen Freiheit und Gleichheit schließlich viel mehr als ein Almosen und der Reichtum sei immer auch Allgemeingut. Dies war der Leitgedanke, der lange Zeit in der Bundesrepublik Früchte trug. Die Renten stiegen auf ein erträgliches Maß. Die Krankenversorgung verbesserte sich stetig. Die Unterstützungsleistungen für Arbeitslose und Berufsunfähige entwickelten sich günstig. Der Staat geizte nicht bei der Förderung der Bildung der sozial Schwächeren. Die Schichten der Gesellschaft wurden durchlässiger und der Gegensatz zwischen Arm und Reich klaffte weit weniger stark auseinander als heute.
Zu den Lebenslügen der westdeutschen Gesellschaft gehört die irrige Vorstellung, dass man sich diese soziale Entwicklung nur selbst zu verdanken hatte. Wäre dem so, so würde die Entwicklung heute noch stattfinden.
In Wahrheit war das Ringen um mehr Gleichheit in der Freiheit auch dem Systemwettstreit geschuldet. Die Bundesrepublik suchte nicht nachhaltig nach der Formel für eine Einheit aus Wirtschafts- und Sozialpolitik. Aber sie war immerhin ein Land, das dichte Netze spann, um Menschen vor Elend und Erniedrigung zu bewahren. Der Kapitalismus musste zu seinem Überleben beweisen, dass auch er für sozialen Fortschritt sorgen konnte. Und ausgerechnet Ernst Bloch sollte ihm dabei helfen.
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Man sagt, die Leipziger Studenten der fünfziger Jahre liebten Bloch. Vielleicht auch deshalb, weil das Hoffen das Privileg der Jugend ist und der seinerzeit über 60jährige ihnen mit seiner Hoffnungsphilosophie zeitlos jung erscheinen musste. Ich stelle mir vor, dass sie gemeinsam hofften, ein Deutschland aufzubauen, das mit allen Übeln seiner Vergangenheit gebrochen hatte.
Ein Land ohne Nazis in den Führungsetagen von Wirtschaft und Politik.
Ein Land des Friedens.
Ein Land ohne Ausbeutung und mit gerecht verteiltem Wohlstand.
Ein Land, in dem jeder frei leben, frei sprechen und denken kann.
Ein Land, in dem man die Unfähigkeit der Mächtigen offen kritisieren darf.
Ein Land, in dem die Wahrheit diskutiert und nicht verordnet wird.
Ein Land, in dem das Schisma des Humanismus überwunden wird.
- 1957 reichte es dann der SED.
Ernst Bloch wurde zwangsemeritiert. Er galt fortan als Verführer der Jugend.
Vielleicht hat ihn das stolz gemacht. Sokrates hatte man dasselbe vorgeworfen. Aber dem reichte man den Giftbecher. Bloch wurde nur schikaniert. Seine Schriften wurden nicht mehr gedruckt. In der Öffentlichkeit durfte er nicht mehr auftreten. Für einen Philosophen bedeutet das natürlich Arbeitsverbot.
Nach dem Bau der Berliner Mauer ging er 1961 in die Bundesrepublik. Nun wählte er doch das andere Deutschland. Kenner seiner Schriften sagen allerdings, dass sich seine Philosophie damit nicht ein Stück änderte. Er vertrat dieselben Kernthesen mit denselben Argumenten. Es ist wohl nur so, dass es ihm leichter fiel, in der Welt der Freiheit für mehr Gleichheit zu kämpfen, als in der Welt der Gleichheit für mehr Freiheit.
In der alten Universitätsstadt Tübingen hielt er seine Antrittsvorlesung unter dem Titel: „Kann Hoffnung enttäuscht werden“. Bloch antwortete fröhlich: „Gewiss kann sie das – und wie.“ Doch bis zu seinem Tod hoffte er weiter. Er wurde zu einem lehrenden Teil der Studentenbewegung. Er kämpfte gegen die Neutronenbombe, gegen die Notstandsgesetze, gegen den Abtreibungsparagraphen, gegen Berufsverbote für Linke und immer wieder für die Gleichheit der freien Menschen. Die kulturelle Revolution der Studenten wäre ohne ihn anders verlaufen. (1977 starb er.)
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Die Bundesrepublik fand nie zu einem Optimum bei der Vermittlung von Freiheit und Gleichheit. Noch schlimmer ist, dass sie die Suche nach diesem Optimum plötzlich aufgab. Im Herbst 1989 stürzten die Menschen in der DDR den real existierenden Sozialismus und damit das Konkurrenzmodell zur Bundesrepublik. Als sie im Frühjahr 1990 die Wiedervereinigung forderten, entschieden sie sich nicht nur für Freiheit. Sie votierten für Freiheit in sozialer Sicherheit. Die geschichtliche Ironie ist bitter: Mit diesem Votum endete der Systemwettstreit und damit die Chance, dieses Votum einzulösen.
Sogar die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung räumte genau das unlängst in einem Artikel ein. Ich zitiere das einmal. Trotz der begrifflichen Unschärfe im Zitat.
„Manchem wird erst jetzt bewusst, wie sehr die Konkurrenz des Kommunismus, solange sie bestand, auch den Kapitalismus gebändigt hat.“ (Ende des Zitates.)
1989 endete nicht nur der erste historische Sozialismus. Sondern es endete vorerst auch der Kampf des Kapitalismus um sein Dasein. Das Grundgesetz wurde die Verfassung des geeinten Deutschlands. Doch seine kleinen sozialen Passagen wurden nun plötzlich ganz anders gelesen oder schlicht ignoriert. Auch die Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes – die ich zitierte – geriet in Vergessenheit. Ab der Mitte der 90ziger Jahre setzte ein massiver Rückbau sozialer Leistungen ein.
Die soziale Utopie der Verfassung errichtete man einst unter den allerschlimmsten wirtschaftlichen Bedingungen. Nun sollten die behaupteten Bedürfnisse einer blühenden Wirtschaft herhalten, um Sozialabbau zu rechtfertigen.
Die Staatsdoktrin der neoliberalen Politik wurde die Brotkrumentheorie: Man müsse die Tische der Reichen füllen, bis sie sich biegen – dann fielen auch allemal genug Krümel in die Münder der Armen hinab. Die Brotkrumentheorie besagt: In einer weltweiten Finanzkrise muss man wieder viel Brot auf die Tische der Banken und Unternehmer stellen, sonst fehlt es an Krümeln für die Arbeitnehmer. Nur von der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Brotes handelt diese Theorie schon im Ansatz nicht.
Sie hat nichts zu tun mit der Suche nach dem Optimum zwischen Freiheit und Gleichheit. Sie ist die Verachtung dieser Suche. Sie ist die Verachtung der Hoffnung auf die Erfüllung der humanen Utopie.
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Kann Hoffnung enttäuscht werden? – Ja.
Muss man sich mit der Hoffnung mäßigen, wenn sie enttäuscht wurde? – Nein.
Was sollen wir schlussfolgern aus einem Kapitalismus, der zu sozialen Leistungen nur unter großem Druck fähig ist? – Dass wir wieder Druck machen müssen!
Wie gehen wir um mit den gescheiterten Versuchen, soziale Grundrechte in die Verfassung einzuführen? Wir versuchen es wieder!
Ich schlage vor, wir sollten uns hoffend betätigen. Im Blochschen Sinne. Nicht, indem wir Luftschlösser bauen oder Wunschbildern nachhängen. Sondern, indem wir die Pflicht auf uns nehmen, die humane Utopie zu entwickeln, die weder im Osten noch im Westen jemals verwirklicht worden ist: die Überwindung des humanen Schismas. Die alte Aufgabe ist immer noch unerfüllt. Wir müssen sie erfüllen. Für ein Land, in dem die Freien gleich und die Gleichen frei sind.
Doch nur für den einen Teil dieser Utopie gibt es bereits ein bewährtes Verfassungsgebäude. Das Grundgesetz hat sich bewährt bei der Sicherung der Demokratie. Es hat sich bewährt bei der Sicherung der Freiheitsrechte und des Rechtsstaates. Es hat seine liberale Utopie in die Wirklichkeit umgesetzt.
Das ist viel wert. Weimar ist das nicht gelungen.
Doch die soziale Utopie des Grundgesetzes war zu zaghaft formuliert. Erst recht, um gegen die weltpolitische Erschütterung in den frühen 90ziger Jahren und die Finanz- und Wirtschaftskrise dieser Tage bestehen zu können. Wir müssen stabile Formulierungen finden, um der Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit eine beständige und zuverlässige Grundlage zu geben.
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Verfassungstexte können eine gewaltige Macht haben. Sie sind die Formulierung einer Utopie, die verpflichtet und berechtigt. Sie sind Grundsteine der Gesellschaft und deshalb die Hoffnung, auf die sich bauen lässt. Sie zwingen die Institutionen des Staates und sie können dem Einzelnen in hohem Maße Selbstbewusstsein und Kraft geben.
Wem man in der Bundesrepublik den Mund verbietet, der wird sagen: „Ich kenne meine Grundrechte, ich darf sagen, was ich für richtig halte. Ich füge mich nicht.“ Doch wen man in der Bundesrepublik wegen Mietrückständen auf die Straße setzt, der wird sagen: „Das ist der schlimme Lauf der Dinge. Ich muss mich fügen.“
Als könnte sich der Mensch auf der kalten Straße an seiner freien Rede wärmen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Verfassung nicht nur vor Entrechtung schützt, sondern auch vor Verelendung. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder Einzelne ein klagbares Recht erhält auf ein menschenwürdiges Dasein, das ihm die Chance zur Selbstverwirklichung und Entwicklung bietet. Für diese Ziele benötigen wir die passenden Verfassungsentwürfe.
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Diese Texte existieren. Ihre Anfänge reichen weit in die Geschichte zurück. Sie sind die unverwirklichten Utopien in den langen Jahrhunderten der gespaltenen humanen Utopie. Eine Spaltung, deren Auswirkungen Rosa Luxemburg so treffend beschrieb:
„Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung. Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.“
Soziale Grundrechte wären ein deutliches Mehr an Gleichheit, um der Freiheit auf die Sprünge zu helfen. Schon die französische Jacobinerverfassung (1793) ergänzte die bürgerlichen Freiheitsrechte um solche sozialen Grundrechte. Sie kannte ein Recht auf Unterhalt und ein Recht auf Bildung. Die frühen sozialistischen Bewegungen des vorletzten Jahrhunderts sahen in sozialen Grundrechten die Menschenrechte der Arbeiter im Kampf um einen angemessenen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand. Die Weimarer Verfassung der ersten Deutschen Republik enthielt „soziale Grundrechte“ zwar als Richtlinien der Politik, nicht aber als einklagbare Ansprüche der Menschen. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1949) der Generalversammlung der Vereinigten Nationen erstrebt eine Welt, in der alle Menschen auch und gerade „Freiheit vor Not und Furcht“ genießen. Doch Resolutionen der Generalversammlung sind ohne rechtliche Bindung und haben lediglich moralisches Gewicht.
Auch in der Bundesrepublik gab es nach den Jahren des Wirtschaftsbooms und der Vollbeschäftigung eine Diskussion um die sozialen Grundrechte. Eine vom Deutschen Bundestag beauftragte Expertenkommission kam 1981 nach zweijähriger Beratung zu der Schlussfolgerung, dass soziale Ergänzungen des Verfassungstextes sinnvoll seien. Die Empfehlungen wurden nie umgesetzt.
Auch 1990 im Zuge der Wiedervereinigung und der Diskussion zu einer gesamtdeutschen Verfassung fand sich keine Mehrheit für soziale Grundrechte in der „Gemeinsamen Verfassungskommission“. 1994 brachte die Fraktion der PDS/Linke Liste in den Deutschen Bundestag einen Verfassungsentwurf für das wiedervereinigte Deutschland ein, über den das gesamte Volk in einer bundesweiten Abstimmung entscheiden sollte. Der Vorschlag beinhaltete eine lange Reihe von konstruktiven Ansätzen zur Festigung des sozialen Gehaltes einer neuen Verfassung. Der Bundestag ließ die Vorlage nicht passieren. Sie kam nie beim Volk an.
Die Fraktion der PDS aus der 14. Wahlperiode erarbeitete einen Antrag, der die Freiheitsrechte der Verfassung um soziale Grundrechte ergänzen sollte. In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sollte der Mensch geschützt werden vor Armut, Wohnungslosigkeit, dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem Ausschluss von Bildung und Kultur. In dieser Wahlperiode haben wir dieses Ideen-Erbe wieder aufgegriffen. Wir haben es auch aktualisiert.
Wir haben es angepasst an einen Kapitalismus, der zunehmend rücksichtsloser und unkontrollierter agiert und die Gesellschaft in eine globale Krise gestürzt hat.
Eine fachübergreifende Arbeitsgruppe der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag hat Ihnen nun einen umfassenden Katalog sozialer Grundrechte zur Diskussion vorgelegt. Ebenso wie die Freiheitsrechte sollen die neuen, sozialen Grundrechte echte, einklagbare Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat schaffen.
Der Katalog umfasst ein Grundrecht auf Arbeit, ein Grundrecht auf soziale Sicherung, ein Grundrecht auf bezahlbaren Wohnraum, ein Grundrecht auf gesundheitliche Daseinsvorsorge und ein Recht auf Migration. Ich zitiere einmal aus dem möglichen neuen Verfassungstext: Ein neuer Artikel 3 b könnte so lauten:
„Artikel 3b (Recht auf soziale Sicherheit)
(1) Jeder Bedürftige hat einen Anspruch auf gegenleistungs- und diskriminierungsfreie Sicherung des Existenzminimums. Dabei müssen die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein und die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gewährleistet sein.
(2) Der Staat ist verpflichtet, kollektive Sicherungssysteme für die Wechselfälle des Lebens zu schaffen. Diese sind solidarisch zu finanzieren.“
Ein neuer Artikel 3 c könnte in Auszügen so lauten:
„Artikel 3c (Recht auf angemessenen Wohnraum)
(1) Alle Menschen haben das Recht auf einen angemessenen Wohnraum und das Recht auf Versorgung mit Wasser und Energie.“
„Ein neuer Artikel 3 d sieht einen Anspruch auf gesundheitliche Daseinsvorsorge vor:
(1) Alle Menschen haben das Recht auf gesundheitliche Daseinsvorsorge.
(2) Das Recht ist durch einen sozial gerechten, solidarisch finanzierten und diskriminierungsfreien Zugang zu den Leistungen der medizinischen Vorsorge, Versorgung und Nachsorge und zu Pflegeleistungen zu gewährleisten.
(3) Der Staat ist zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Umweltbedingungen verpflichtet.“
Ich zitiere weiter:
„Artikel 3 e (Recht auf Bildung)
(1) Alle Menschen haben das Recht auf Bildung. Das Recht umfasst die unentgeltliche, integrative vorschulische Bildung, Schulausbildung, berufliche Aus- und Weiterbildung, Hochschulbildung und die allgemeine kulturelle und politische Bildung und Weiterbildung.“
Ein neuer Artikel 9 könnte den Arbeitnehmern neue demokratische Rechte verleihen:
„Artikel 9 Abs.4 (Streikrecht)
(4) Das Streikrecht ist gewährleistet. Es umfasst auch das Recht zum politischen Streik“
Diese Vorlagen sind im Augenblick noch gute Ideen auf geduldigem Papier. Würden sie aber in den Verfassungstext Einzug halten, hätte sich unsere Gesellschaft bald tiefgreifend geändert. Der Staat wäre dann verpflichtet, seine politischen und finanziellen Ressourcen auch zur Durchsetzung der sozialen Grundrechte zu verwenden. Er wäre nun nicht allein der Hüter der formalen Freiheit. Er wäre demnach verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Freiheit real wird, indem die Menschen die materiellen Mittel für den Gebrauch der Freiheit erhalten. Er müsste sich daran machen, Millionen von Menschen aus ihrer ganz realen Unfreiheit zu befreien. Er müsste für Freiheit sorgen: vor existentieller Bedrohung, vor Unbildung, vor Armut und vor Entwürdigung.“
Und dann werden Menschen die Verfassung aufschlagen und in ihr die gesellschaftliche Wirklichkeit lesen. Sie werden vielleicht einen Text wie den Folgenden lesen:
„Artikel 3a (Recht auf Arbeit)
(1) Im Mittelpunkt des Arbeits- und Wirtschaftslebens steht das Wohl der Menschen.
(2) Alle Menschen haben das Recht auf eine frei gewählte oder angenommene Arbeit.“
Das werden Menschen aber nicht nur lesen. Sie werden auch sagen, dass die Utopie keine reine Utopie mehr ist. Sie werden sagen, dass die Utopie sich zu verwirklichen begonnen hat. Man wird in dieser Zukunft – wie Bloch es nannte – endlich den aufrechten Gang erlernen.
Aufrecht geht der Mensch nur als Gleicher unter Freien.
(***)
Das ist die große Utopie, die wir uns denken müssen, die wir ergründen müssen. Soziale Grundrechte sind ein großer Schritt in eine gerechtere Zukunft, die wir uns vorstellen müssen. Gegen diesen großen Schritt stehen nur schwache Argumente. Sie entspringen entweder einem Mangel an Phantasie oder einem Überfluss an persönlichem Wohlstand. Die ersten Kritiker können sich keine gerechte Zukunft vorstellen. Die zweiten wollen nicht.
So alt wie die Diskussion zu sozialen Grundrechten sind auch die zwei Gegenargumente, mit denen gegen soziale Grundrechte stets zu Felde gezogen wurde. Erstens: Soziale Grundrechte seien ein Widerspruch zum Leistungsprinzip. Zweitens: Soziale Grundrechte seien außerdem nicht bezahlbar oder zwängen den Staat zumindest, zu ihrer Finanzierung wirtschaftliche Freiheiten zu beschneiden und unternehmerische Gewinne durch hohe Steuern zu schmälern.
Ist die freie Profitgier von Wenigen mehr wert als der Anspruch von Vielen auf reale Freiheit? Darf man in einem freien Land die Erlangung von Reichtum höher schätzen als den humanen Wunsch nach Selbstverwirklichung? Was ist das für ein Staat, der die Freiheit der Vielen nicht erfüllen mag, weil er die Egoismen einiger Weniger als unabweisbar ansieht? Genießt die Freiheit der Wirtschaft tatsächlich Vorrang vor der Freiheit der Menschen? Sicher nicht.
Soziale Grundrechte sind finanzierbar, wenn die Politik sie finanzieren will. Soziale Grundrechte sind auch kein Widerspruch zum Leistungsprinzip, sondern sie würden nur dazu beitragen, dass dieser Begriff endlich auch einen überzeugenden Inhalt hätte. Frei von Armut und Angst könnten die Menschen überhaupt erst beginnen, sich selbstbestimmt zu verwirklichen, unter gerechten Umständen miteinander fair zu wetteifern, sich mit ihren Leistungen zu messen.
Was geschieht, wenn Menschen nun auch von Armut und Angst befreit werden? Wer keine Angst vor Armut mehr kennt, der wird auch die Gier und die Habsucht leichter abstreifen. Wer seine Angst verliert, dem fällt Missgunst und Hass viel schwerer. Dies wäre keine Welt aus besseren Menschen. Es wäre „nur“ eine bessere Welt, in der die Bösartigkeit nicht mehr recht lohnt und es leichter fällt, gerecht zu sein.
Wir reden heute also nicht nur über irgendeine gut gemeinte verfassungsrechtliche Initiative, sondern stellen uns – ganz im Bloch`schen Sinne – der Pflicht, uns im Kopf eine Welt zu denken, die wir in der Realität noch nicht erfahren können.
Wir haben Visionen. Und das gibt Anlass zur Hoffnung, dass alle Teilnehmer unseres Treffens in allerbester geistiger Verfassung sind – die beste Voraussetzung für eine spannende Konferenz! Vielen Dank
[1] Anmerkung zur Präzisierung: Als die Mauer gebaut wurde, befand Bloch sich in der Bundesrepublik und entschied sich nun, nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Erst der Mauerbau formte den endgültigen Entschluss.
[2] „Kommunismus“ ist das ideologische Fernziel der sozialistischen Welt gewesen, die – nach marxistischen Kriterien – zunächst einmal den Sozialismus aus seiner Frühform in seine entwickelte Spätform (Absterben des Staates) bringen wollte. Nimmt man auf dieses Selbstbild des realexistierenden Sozialismus Rücksicht, kann es begrifflich keine Konkurrenz des Kommunismus zum Kapitalismus gegeben haben. Auch fehlte es im realexistierenden Sozialismus schon objektiv an den für den Kommunismus vorgestellten Umständen. Begrifflich unscharf formulierte damit die FAZ.
– www.wolfgang-neskovic.de