Was ist eigentlich Rassismus?
Montag, 4. Juli 2011 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
Hendrik Cremer
Die Diskussion zu Aussagen von Thilo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutschland eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.
«Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen» – so heißt der Titel eines Buches von Thilo Sarrazin, das in Deutschland im August 2010 im renommierten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsentation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Auftritte in Talkshows und Interviews mit Sarrazin folgten. Bereits vor der Präsentation des Buches hatten das Nachrichtenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung exklusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als «Realo-Politiker» und Provokateur präsentiert, der bestehende Tabus breche – insbesondere in der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sarrazin, seit über dreißig Jahren in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öffentliche Ämter in Deutschland inne.
«Wir» und die «Anderen»
Sarrazin hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft in Deutschland nach dem Muster «Wir» und die «Anderen» zu unterteilen. Innerhalb der «Anderen» bildet er weitere Untergruppen wie «Türken», «Araber» oder wahlweise «muslimische Migranten», deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Dabei gehen Sarrazins Aussagen einher mit Thesen zur «genetischen Identität» eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der «Kultur» von Menschen in einen Zusammenhang setzt.
Sarrazin nimmt in seinen Thesen unter anderem Bezug auf Francis Galton (1822-1911), den er als «Vater der frühen Intelligenzforschung» bezeichnet. Dass Francis Galton als Begründer der modernen Eugenik gilt und rassistische Vererbungslehren vertreten hat, bleibt in seinem Buch hingegen unerwähnt.
Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin stets von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrektheit, um gleichzeitig rassistische Verbalattacken vorzunehmen. Zudem enthalten seine Aussagen diffuse, polemische und faktisch falsche Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, sodass Menschen einfach nach Deutschland einwandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber mitnichten der Fall.
Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert den Leser, etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie seiner Weltsicht entsprechen. Andere Interpretationsmöglichkeiten ignoriert er. Datenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwähnung.
Reaktionen auf Sarrazins Buch
Nach der Veröffentlichung des Buches wurden Sarrazin und seine Thesen wochenlang zum Topthema in der deutschen Medienlandschaft. Nicht wenige Kommentatoren haben seine Diffamierungen zwar verurteilt, kamen aber zum Schluss, dass Sarrazin im Kern die eigentlichen Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher direkt in die Hände: Die Reaktionen, die er ausgelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen.
Dabei negiert Sarrazin in seinen Ausführungen und Grundaussagen fundamentale Prinzipien des Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Menschenrechte: Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodifizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Wesentliche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen, die er im Bereich der Zuwanderungspolitik erhoben hat, liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unveränderbaren Kerns des Grundgesetzes.1 Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschaftsordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zuvor allein rechtsextremen Parteien zugeordnet wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung.
Einige Medien und Kommentatoren sahen sogar in geäußerter Kritik an Sarrazins Thesen die Meinungsfreiheit in Frage gestellt. Diese Stoßrichtung der Debatte bezog sich unter anderem auf die Bundeskanzlerin, die Äußerungen Sarrazins als schlichte und dumme Pauschalurteile gebrandmarkt hat, die äußerst verletzend und diffamierend seien.
Die Sarrazin-Debatte hat deutliche Spuren und Wirkungen im öffentlichen und politischen Raum hinterlassen. Dazu gehört auch, dass einzelne staatliche Akteure im politischen Raum immer wieder die Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland betreiben.2 Dabei stehen Stereotypisierungen und Stigmatisierungen von Menschengruppen auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, Kultur oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Repräsentanten im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Insbesondere als Vertragsstaat der UN-Anti-Rassismus-Konvention ist Deutschland Verpflichtungen eingegangen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Zudem enthält die Konvention Verpflichtungen, Rassismus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entgegenzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Menschenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft annehmen, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Dabei kommt der Politik, dem Staat und seinen Institutionen eine wichtige Funktion zu, indem sie Maßstäbe setzen.
Erweiterung des Verständnisses von Rassismus nötig
Die Erfahrungen der Sarrazin-Debatte sollten vor diesem Hintergrund zum Anlass genommen werden, eine möglichst breite und zugleich sachliche Diskussion über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. Die Sarrazin-Debatte hat schließlich deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. So werden in Deutschland mit dem Begriff «Rassismus» oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Rassismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassismus wurde in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen Rassismus, der die Umsetzung der UN-Anti-Rassismus-Konvention überprüft, hat Deutschland im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbegriff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern. Gleiches hat die Europarat-Kommission gegen Rassismus im Jahre 2009 ebenso angemahnt wie der UN-Sonderberichterstatter gegen Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechtsrat vorgestellten Bericht über Deutschland.
Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen, die in demokratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf politisch organisierten Rechtsextremismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich bereits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Verständnis von Rassismus ausmachen.
Immerhin gibt es auf der politischen Ebene erste Anzeichen in diese Richtung. So hat etwa die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan gegen Rassismus von Oktober 2008 anerkannt, dass sich auch jenseits des rechtsextremistischen Lagers rassistische Ressentiments und Stereotype finden und dass sich die Bekämpfung von Rassismus nicht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus erschöpft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt beziehen muss.
Rassismus im 21. Jahrhundert oft kulturalistisch begründet
Rassismus setzt kein Gedankengut voraus, das auf biologistischen Theorien von Abstammung und Vererbung basiert. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschiedlichen «Rassen» eingeteilt werden. Rassistische Argumentationsmuster der Gegenwart verlaufen – wenn man so will – häufig versteckter. Typischerweise basieren sie auf Zuschreibungen auf Grund unterschiedlicher «Kulturen», «Nationen», «Ethnien» oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in «Wir» und die «Anderen» unterteilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebildet werden, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jeweiligen Menschengruppen sozusagen in ihnen «gefangen» gehalten und nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen jedenfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.
Häufig wird Rassismus der Gegenwart kulturalistisch begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden. Dennoch wird die Dimension von Sarrazins Thesen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmässig hervorgehoben, dass er ja nicht von «Rassen» oder «Ethnien» spreche, sondern auf die «Kultur» von Menschen Bezug nehme. Dabei nimmt Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen sogar Rückgriff auf ein Gedankengut, welches die geistige Grundlage des Nationalsozialismus bildete: die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen («Rassen») nach pseudowissenschaftlichen Kriterien. Nur damit lässt sich auch erklären, dass sich der wegen seiner antimuslimischen Rhetorik über die Landesgrenzen hinaus bekannte Niederländer Geert Wilders in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Spiegel im November 2010 deutlich von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert hat.
Sarrazin, ein Rassist?
Nicht wenigen Kommentatoren in Deutschland bereitete die Einordnung von Sarrazins öffentlichen Aussagen in Interviews oder seinem Buch Schwierigkeiten. Sind seine Aussagen nun rassistisch oder nicht? Antworten darauf wurden teilweise bei ihm selbst gesucht: «Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?» Diese Vorgehensweise führt indes nicht weiter. Bei der Frage, ob Aussagen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbedeutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht. Die deutsche rechtsextreme Partei der Republikaner hat sich Sarrazins Thesen jedenfalls zu Eigen gemacht und einen entsprechenden Slogan («Ich bin ein Sarraziner») herausgegeben.
Die Sarrazin-Debatte hat besonders deutlich gezeigt, dass Regierung und Parlament gefordert sind, Ausgrenzung und Diskriminierung aktiv entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grundsatz unserer Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Auch den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte und durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung gerecht werden können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der durch die Sarrazin-Debatte verschobene Rahmen der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder nachhaltig auf sein menschenrechtliches und verfassungsrechtliches Fundament zurückgeführt werden.
1 Siehe dazu genauer http://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-menschenrechte-muessen-grundlage-der-debatte-um-in-tegration-und-zuwanderung-sein.html
2 Siehe dazu auch http://www.institut-fuer-menscri.en-rechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellung-
nahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin_
02_09_2010.pdf
Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte.
Das Institut ist die von den Vereinten Nationen anerkannte nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und trägt zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte bei. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über Forschung und Politikberatung bis zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit.
Was ist eigentlich Rassismus?
Hendrik Cremer
Die Diskussion zu Aussagen von Thilo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutschland eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.
«Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen» – so heißt der Titel eines Buches von Thilo Sarrazin, das in Deutschland im August 2010 im renommierten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsentation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Auftritte in Talkshows und Interviews mit Sarrazin folgten. Bereits vor der Präsentation des Buches hatten das Nachrichtenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung exklusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als «Realo-Politiker» und Provokateur präsentiert, der bestehende Tabus breche – insbesondere in der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sarrazin, seit über dreißig Jahren in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öffentliche Ämter in Deutschland inne.
«Wir» und die «Anderen»
Sarrazin hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft in Deutschland nach dem Muster «Wir» und die «Anderen» zu unterteilen. Innerhalb der «Anderen» bildet er weitere Untergruppen wie «Türken», «Araber» oder wahlweise «muslimische Migranten», deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Dabei gehen Sarrazins Aussagen einher mit Thesen zur «genetischen Identität» eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der «Kultur» von Menschen in einen Zusammenhang setzt.
Sarrazin nimmt in seinen Thesen unter anderem Bezug auf Francis Galton (1822-1911), den er als «Vater der frühen Intelligenzforschung» bezeichnet. Dass Francis Galton als Begründer der modernen Eugenik gilt und rassistische Vererbungslehren vertreten hat, bleibt in seinem Buch hingegen unerwähnt.
Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin stets von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrektheit, um gleichzeitig rassistische Verbalattacken vorzunehmen. Zudem enthalten seine Aussagen diffuse, polemische und faktisch falsche Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, sodass Menschen einfach nach Deutschland einwandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber mitnichten der Fall.
Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert den Leser, etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie seiner Weltsicht entsprechen. Andere Interpretationsmöglichkeiten ignoriert er. Datenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwähnung.
Reaktionen auf Sarrazins Buch
Nach der Veröffentlichung des Buches wurden Sarrazin und seine Thesen wochenlang zum Topthema in der deutschen Medienlandschaft. Nicht wenige Kommentatoren haben seine Diffamierungen zwar verurteilt, kamen aber zum Schluss, dass Sarrazin im Kern die eigentlichen Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher direkt in die Hände: Die Reaktionen, die er ausgelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen.
Dabei negiert Sarrazin in seinen Ausführungen und Grundaussagen fundamentale Prinzipien des Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Menschenrechte: Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodifizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Wesentliche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen, die er im Bereich der Zuwanderungspolitik erhoben hat, liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unveränderbaren Kerns des Grundgesetzes.1 Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschaftsordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zuvor allein rechtsextremen Parteien zugeordnet wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung.
Einige Medien und Kommentatoren sahen sogar in geäußerter Kritik an Sarrazins Thesen die Meinungsfreiheit in Frage gestellt. Diese Stoßrichtung der Debatte bezog sich unter anderem auf die Bundeskanzlerin, die Äußerungen Sarrazins als schlichte und dumme Pauschalurteile gebrandmarkt hat, die äußerst verletzend und diffamierend seien.
Die Sarrazin-Debatte hat deutliche Spuren und Wirkungen im öffentlichen und politischen Raum hinterlassen. Dazu gehört auch, dass einzelne staatliche Akteure im politischen Raum immer wieder die Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland betreiben.2 Dabei stehen Stereotypisierungen und Stigmatisierungen von Menschengruppen auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, Kultur oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Repräsentanten im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Insbesondere als Vertragsstaat der UN-Anti-Rassismus-Konvention ist Deutschland Verpflichtungen eingegangen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Zudem enthält die Konvention Verpflichtungen, Rassismus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entgegenzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Menschenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft annehmen, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Dabei kommt der Politik, dem Staat und seinen Institutionen eine wichtige Funktion zu, indem sie Maßstäbe setzen.
Erweiterung des Verständnisses von Rassismus nötig
Die Erfahrungen der Sarrazin-Debatte sollten vor diesem Hintergrund zum Anlass genommen werden, eine möglichst breite und zugleich sachliche Diskussion über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. Die Sarrazin-Debatte hat schließlich deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. So werden in Deutschland mit dem Begriff «Rassismus» oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Rassismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassismus wurde in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen Rassismus, der die Umsetzung der UN-Anti-Rassismus-Konvention überprüft, hat Deutschland im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbegriff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern. Gleiches hat die Europarat-Kommission gegen Rassismus im Jahre 2009 ebenso angemahnt wie der UN-Sonderberichterstatter gegen Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechtsrat vorgestellten Bericht über Deutschland.
Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen, die in demokratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf politisch organisierten Rechtsextremismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich bereits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Verständnis von Rassismus ausmachen.
Immerhin gibt es auf der politischen Ebene erste Anzeichen in diese Richtung. So hat etwa die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan gegen Rassismus von Oktober 2008 anerkannt, dass sich auch jenseits des rechtsextremistischen Lagers rassistische Ressentiments und Stereotype finden und dass sich die Bekämpfung von Rassismus nicht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus erschöpft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt beziehen muss.
Rassismus im 21. Jahrhundert oft kulturalistisch begründet
Rassismus setzt kein Gedankengut voraus, das auf biologistischen Theorien von Abstammung und Vererbung basiert. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschiedlichen «Rassen» eingeteilt werden. Rassistische Argumentationsmuster der Gegenwart verlaufen – wenn man so will – häufig versteckter. Typischerweise basieren sie auf Zuschreibungen auf Grund unterschiedlicher «Kulturen», «Nationen», «Ethnien» oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in «Wir» und die «Anderen» unterteilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebildet werden, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jeweiligen Menschengruppen sozusagen in ihnen «gefangen» gehalten und nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen jedenfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.
Häufig wird Rassismus der Gegenwart kulturalistisch begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden. Dennoch wird die Dimension von Sarrazins Thesen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmässig hervorgehoben, dass er ja nicht von «Rassen» oder «Ethnien» spreche, sondern auf die «Kultur» von Menschen Bezug nehme. Dabei nimmt Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen sogar Rückgriff auf ein Gedankengut, welches die geistige Grundlage des Nationalsozialismus bildete: die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen («Rassen») nach pseudowissenschaftlichen Kriterien. Nur damit lässt sich auch erklären, dass sich der wegen seiner antimuslimischen Rhetorik über die Landesgrenzen hinaus bekannte Niederländer Geert Wilders in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Spiegel im November 2010 deutlich von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert hat.
Sarrazin, ein Rassist?
Nicht wenigen Kommentatoren in Deutschland bereitete die Einordnung von Sarrazins öffentlichen Aussagen in Interviews oder seinem Buch Schwierigkeiten. Sind seine Aussagen nun rassistisch oder nicht? Antworten darauf wurden teilweise bei ihm selbst gesucht: «Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?» Diese Vorgehensweise führt indes nicht weiter. Bei der Frage, ob Aussagen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbedeutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht. Die deutsche rechtsextreme Partei der Republikaner hat sich Sarrazins Thesen jedenfalls zu Eigen gemacht und einen entsprechenden Slogan («Ich bin ein Sarraziner») herausgegeben.
Die Sarrazin-Debatte hat besonders deutlich gezeigt, dass Regierung und Parlament gefordert sind, Ausgrenzung und Diskriminierung aktiv entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grundsatz unserer Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Auch den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte und durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung gerecht werden können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der durch die Sarrazin-Debatte verschobene Rahmen der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder nachhaltig auf sein menschenrechtliches und verfassungsrechtliches Fundament zurückgeführt werden.
1 Siehe dazu genauer http://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-menschenrechte-muessen-grundlage-der-debatte-um-in-tegration-und-zuwanderung-sein.html
2 Siehe dazu auch http://www.institut-fuer-menscri.en-rechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellung-
nahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin_
02_09_2010.pdf
Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrecht
Hendrik Cremer
Die Diskussion zu Aussagen von Thilo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutschland eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.
«Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen» – so heißt der Titel eines Buches von Thilo Sarrazin, das in Deutschland im August 2010 im renommierten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsentation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Auftritte in Talkshows und Interviews mit Sarrazin folgten. Bereits vor der Präsentation des Buches hatten das Nachrichtenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung exklusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als «Realo-Politiker» und Provokateur präsentiert, der bestehende Tabus breche – insbesondere in der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sarrazin, seit über dreißig Jahren in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öffentliche Ämter in Deutschland inne.
«Wir» und die «Anderen»
Sarrazin hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft in Deutschland nach dem Muster «Wir» und die «Anderen» zu unterteilen. Innerhalb der «Anderen» bildet er weitere Untergruppen wie «Türken», «Araber» oder wahlweise «muslimische Migranten», deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Dabei gehen Sarrazins Aussagen einher mit Thesen zur «genetischen Identität» eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der «Kultur» von Menschen in einen Zusammenhang setzt.
Sarrazin nimmt in seinen Thesen unter anderem Bezug auf Francis Galton (1822-1911), den er als «Vater der frühen Intelligenzforschung» bezeichnet. Dass Francis Galton als Begründer der modernen Eugenik gilt und rassistische Vererbungslehren vertreten hat, bleibt in seinem Buch hingegen unerwähnt.
Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin stets von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrektheit, um gleichzeitig rassistische Verbalattacken vorzunehmen. Zudem enthalten seine Aussagen diffuse, polemische und faktisch falsche Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, sodass Menschen einfach nach Deutschland einwandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber mitnichten der Fall.
Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert den Leser, etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie seiner Weltsicht entsprechen. Andere Interpretationsmöglichkeiten ignoriert er. Datenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwähnung.
Reaktionen auf Sarrazins Buch
Nach der Veröffentlichung des Buches wurden Sarrazin und seine Thesen wochenlang zum Topthema in der deutschen Medienlandschaft. Nicht wenige Kommentatoren haben seine Diffamierungen zwar verurteilt, kamen aber zum Schluss, dass Sarrazin im Kern die eigentlichen Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher direkt in die Hände: Die Reaktionen, die er ausgelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen.
Dabei negiert Sarrazin in seinen Ausführungen und Grundaussagen fundamentale Prinzipien des Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Menschenrechte: Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodifizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Wesentliche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen, die er im Bereich der Zuwanderungspolitik erhoben hat, liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unveränderbaren Kerns des Grundgesetzes.1 Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschaftsordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zuvor allein rechtsextremen Parteien zugeordnet wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung.
Einige Medien und Kommentatoren sahen sogar in geäußerter Kritik an Sarrazins Thesen die Meinungsfreiheit in Frage gestellt. Diese Stoßrichtung der Debatte bezog sich unter anderem auf die Bundeskanzlerin, die Äußerungen Sarrazins als schlichte und dumme Pauschalurteile gebrandmarkt hat, die äußerst verletzend und diffamierend seien.
Die Sarrazin-Debatte hat deutliche Spuren und Wirkungen im öffentlichen und politischen Raum hinterlassen. Dazu gehört auch, dass einzelne staatliche Akteure im politischen Raum immer wieder die Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland betreiben.2 Dabei stehen Stereotypisierungen und Stigmatisierungen von Menschengruppen auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, Kultur oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Repräsentanten im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Insbesondere als Vertragsstaat der UN-Anti-Rassismus-Konvention ist Deutschland Verpflichtungen eingegangen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Zudem enthält die Konvention Verpflichtungen, Rassismus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entgegenzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Menschenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft annehmen, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Dabei kommt der Politik, dem Staat und seinen Institutionen eine wichtige Funktion zu, indem sie Maßstäbe setzen.
Erweiterung des Verständnisses von Rassismus nötig
Die Erfahrungen der Sarrazin-Debatte sollten vor diesem Hintergrund zum Anlass genommen werden, eine möglichst breite und zugleich sachliche Diskussion über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. Die Sarrazin-Debatte hat schließlich deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. So werden in Deutschland mit dem Begriff «Rassismus» oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Rassismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassismus wurde in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen Rassismus, der die Umsetzung der UN-Anti-Rassismus-Konvention überprüft, hat Deutschland im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbegriff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern. Gleiches hat die Europarat-Kommission gegen Rassismus im Jahre 2009 ebenso angemahnt wie der UN-Sonderberichterstatter gegen Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechtsrat vorgestellten Bericht über Deutschland.
Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen, die in demokratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf politisch organisierten Rechtsextremismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich bereits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Verständnis von Rassismus ausmachen.
Immerhin gibt es auf der politischen Ebene erste Anzeichen in diese Richtung. So hat etwa die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan gegen Rassismus von Oktober 2008 anerkannt, dass sich auch jenseits des rechtsextremistischen Lagers rassistische Ressentiments und Stereotype finden und dass sich die Bekämpfung von Rassismus nicht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus erschöpft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt beziehen muss.
Rassismus im 21. Jahrhundert oft kulturalistisch begründet
Rassismus setzt kein Gedankengut voraus, das auf biologistischen Theorien von Abstammung und Vererbung basiert. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschiedlichen «Rassen» eingeteilt werden. Rassistische Argumentationsmuster der Gegenwart verlaufen – wenn man so will – häufig versteckter. Typischerweise basieren sie auf Zuschreibungen auf Grund unterschiedlicher «Kulturen», «Nationen», «Ethnien» oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in «Wir» und die «Anderen» unterteilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebildet werden, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jeweiligen Menschengruppen sozusagen in ihnen «gefangen» gehalten und nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen jedenfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.
Häufig wird Rassismus der Gegenwart kulturalistisch begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden. Dennoch wird die Dimension von Sarrazins Thesen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmässig hervorgehoben, dass er ja nicht von «Rassen» oder «Ethnien» spreche, sondern auf die «Kultur» von Menschen Bezug nehme. Dabei nimmt Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen sogar Rückgriff auf ein Gedankengut, welches die geistige Grundlage des Nationalsozialismus bildete: die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen («Rassen») nach pseudowissenschaftlichen Kriterien. Nur damit lässt sich auch erklären, dass sich der wegen seiner antimuslimischen Rhetorik über die Landesgrenzen hinaus bekannte Niederländer Geert Wilders in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Spiegel im November 2010 deutlich von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert hat.
Sarrazin, ein Rassist?
Nicht wenigen Kommentatoren in Deutschland bereitete die Einordnung von Sarrazins öffentlichen Aussagen in Interviews oder seinem Buch Schwierigkeiten. Sind seine Aussagen nun rassistisch oder nicht? Antworten darauf wurden teilweise bei ihm selbst gesucht: «Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?» Diese Vorgehensweise führt indes nicht weiter. Bei der Frage, ob Aussagen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbedeutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht. Die deutsche rechtsextreme Partei der Republikaner hat sich Sarrazins Thesen jedenfalls zu Eigen gemacht und einen entsprechenden Slogan («Ich bin ein Sarraziner») herausgegeben.
Die Sarrazin-Debatte hat besonders deutlich gezeigt, dass Regierung und Parlament gefordert sind, Ausgrenzung und Diskriminierung aktiv entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grundsatz unserer Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Auch den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte und durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung gerecht werden können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der durch die Sarrazin-Debatte verschobene Rahmen der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder nachhaltig auf sein menschenrechtliches und verfassungsrechtliches Fundament zurückgeführt werden.
1 Siehe dazu genauer http://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-menschenrechte-muessen-grundlage-der-debatte-um-in-tegration-und-zuwanderung-sein.html
2 Siehe dazu auch http://www.institut-fuer-menscri.en-rechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellung-
nahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin_
02_09_2010.pdf
Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte.
Das Institut ist die von den Vereinten Nationen anerkannte nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und trägt zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte bei. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über Forschung und Politikberatung bis zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit.
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Das Institut ist die von den Vereinten Nationen anerkannte nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und trägt zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte bei. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über Forschung und Politikberatung bis zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit.