Zur politischen Ökonomie der inneren Sicherheit und ihres Wandels
Dienstag, 5. Mai 2009 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen
von John Kannankulam
Blickt man auf die verschiedenen Gesetzgebungsinitiativen im Bereich der inneren Sicherheit der letzten Jahre, kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Binnen kürzester Zeit ging und geht es um Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung, den Bundestrojaner, die vom damaligen EU-Innenkommissar Frattini im November 2007 vorgelegten Pläne, die Daten sämtlicher Flugreisen zwischen EU und Nicht-EU-Staaten 13 Jahre speichern zu lassen, DNA-Tests bei MigrantInnen, die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates, die Novelle des BKA-Gesetzes und die darin u.a. beschlossene Videoüberwachung in Privatwohnungen, den geplanten Onlinezugriff auf Melderegister und Passbilder, das im Mai 2007 verabschiedete Passgesetz, wonach in den neuen Reisepässen zusätzlich zum Passbild die Daten von zwei Fingern auf RFID-Chips gespeichert werden oder aktuell um den von Justizministerin Zypries und Innenminister Schäuble ausgehandelten Kompromiss, wonach der Anschlagsvorsatz nach Besuchen in “Terrorcamps” oder dem Herunterladen von Bombenplänen aus dem Internet strafbar sein soll.
Die wiederholt nach Art der Echternacher Springprozession (Rudolph 2006) betriebene Verschärfung der bundesdeutschen Sicherheitspolitik dreht sich darüber hinaus um die ausstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das aufgrund einer Verfassungsbeschwerde im März per einstweiliger Anordnung das “Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG” stark einschränkte (BVerfG, 1 BvR 256/08 v. 11.3.2008). Laut diesem Gesetz müssen öffentlich zugängliche Telekommunikationsdienste die Verbindungsdaten sechs Monate auf Vorrat speichern, bei Handytelefonaten und SMS auch die Standorte der mobilen Endgeräte speichern und seit dem 1. Januar 2009 müssen E-Mail-Dienstprovider für sechs Monate die Verbindungsdaten des E-Mailverkehrs ihrer Nutzer auf Vorrat erfassen. Ebenfalls seit dem 01.01.09 müssen Internetprovider die Daten bei der Internettelefonie speichern, und es ist auf Vorrat festzuhalten, welcher User welche IP-Adresse zugewiesen bekam. Mit der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts wurde die Speicherpflicht für Kommunikationsunternehmen zwar nicht ausgesetzt, die Verwendung der Daten durch Ermittlungsbehörden erfordert jedoch die Genehmigung eines Ermittlungsrichters und ist nur im Zusammenhang mit schweren Straftaten möglich. Darüber hinaus muss ein durch Tatsachen begründeter Verdacht vorliegen, und andere Ermittlungsmöglichkeiten müssen wesentlich erschwert oder aussichtslos sein.
Mit der Hauptverhandlung zur Verfassungsbeschwerde ist Ende des Jahres zu rechnen, die Liste der sicherheitsstaatlichen Maßnahmen und Vorschläge ließe sich aber fast endlos fortschreiben; nahezu wöchentlich überbieten sich die sicherheitsstaatlichen Organe und Politiker mit neuen und drastischeren Forderungen. Feststellbar ist dabei, so der bürgerrechtliche Tenor, eine massive Ausweitung präventiv-polizeilicher Maßnahmen bei einem gleichzeitigen Abbau rechtsstaatlicher Abwehrrechte (Gössner 2007, Pütter 2007, Prantl 2002, Denninger 2002). Gleichzeitig, so Bretthauer/Stützle (2008: 12), “wird die verfassungsgemäße Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Militär durch gegenseitige Datenübermittlungen und ad-hoc Kooperationen (insbesondere die sog. Amtshilfeersuchen) tendenziell aufgelöst und durch ein partiell verbundenes, hochmilitarisiertes System von Sicherheitsapparaten ersetzt, die die ehemals getrennten, aber funktional aufeinander verwiesenen, Politikfelder Äußere und Innere Sicherheit institutionell verknüpfen.”
Die Fragen, die sich vor dieser Skizze des aktuellen Ausbaus und der Verschärfung sicherheitsstaatlicher Maßnahmen stellen, sind v.a.: Wieso kommt es gerade in jüngster Zeit zu dieser Massierung der “inneren Sicherheitsoffensive”? Und: was ist daran in Zeiten terroristischer Bedrohungsszenarien eigentlich zu kritisieren?
Konjunkturen der inneren Sicherheit
Für die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, die nach hier vorliegendem Verständnis in engem Zusammenhang mit den ökonomischen und politischen Krisen und Umbrüchen seit den siebziger Jahren stehen, ist zunächst einmal wichtig festzuhalten, dass Kapitalismus nicht immer gleich bzw. der gleiche Kapitalismus ist. So ist bspw. der liberale Konkurrenzkapitalismus vor dem Ersten Weltkrieg sicherlich nicht von gleicher Ausprägung wie der “fordistische” Kapitalismus, wie er sich aus den drastischen Krisenprozessen der zwanziger und dreißiger Jahre entwickelt hatte. Und feststellbar ist weiterhin, dass sich der fordistische Kapitalismus seit den 1970er Jahren infolge der damals einsetzenden Krisenprozesse enorm gewandelt hat. Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang bereits von der Existenz einer Neoliberalen Formation, um den einigermaßen unbefriedigenden Begriff des Postfordismus hinter sich zu lassen (Candeias 2004).
Wichtig ist vor diesem Hintergrund weiterhin, dass auch der Staat sich wandelt. So ist der sog. Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts (was er niemals nur war) sicherlich zu unterscheiden vom fordistischen Wohlfahrts- und Sicherheitsstaat oder eben dem neoliberalen Wettbewerbs- oder autoritär etatistischen Staat, wie er sich aus den Umbauprozessen seit den siebziger, achtziger Jahren abzeichnet. In diesem Kontext ist auch ein Teil der Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage zu suchen. Bzw. genauer betrachtet besteht der Zusammenhang darin, dass sich Kapitalismus ganz grundsätzlich nicht ohne den von der Produktion getrennten und mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Staat reproduzieren kann; gleichzeitig muss sich dieses Wechselverhältnis im Zuge der permanenten krisenvermittelten Umwälzungsprozesse auch verändern und neue Gestalt annehmen (Kannankulam 2008: 34ff.). Zu betonen ist in diesem Zusammenhang jedoch die Ungleichzeitigkeit von ökonomischen, politischen und ideologischen Krisenprozessen im Verhältnis zur staatsapparativen Konfiguration und den massenintegrativen Apparaten (Poulantzas 1973; 2002: 231ff.).
Feststellbar ist vor diesem Hintergrund, dass Sicherheit im fordistischen Wohlfahrtsstaat eine andere Bedeutung hatte als heute. Der fordistische Sicherheitsstaat (Hirsch 1980) gewährleistete einigermaßen zugespitzt für die weitgehend homogenisierten Mitglieder einer Massengesellschaft mit ihren standardisierten Lebensweisen v.a. soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung und “zumindest partiell gesellschaftlich anerkannte Schutzbereiche gegen Lohnarbeit” in denen es für bestimmte Individuen und Gruppen legitim war, “zumindest in bestimmten Perioden ihres Lebens, z.B. wegen Krankheit, Alter und anderer gesellschaftlicher Verpflichtungen auch eine Existenz außerhalb der Lohnarbeit zu haben” (Peck 2000: 6). Gleichzeitig hatte er allerdings auch die Tendenz, in immer mehr gesellschaftliche Bereiche zu intervenieren und als bürokratischer Sicherheits- und Überwachungsstaat “Abweichler” zu disziplinieren, was unter den Bedingungen der normierten fordistisch-tayloristischen Arbeits- und Lebensweisen auch vergleichsweise einfach möglich war, “weil Abweichendes auffällt, heraussticht und repressiv ‘behandelt’ werden kann.” (Fisahn 2008: 10).
Umbau der Produktionsweise
Der griechisch-französische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas wies in diesem Kontext während der Krise der 1970er Jahre darauf hin, dass es im Zuge der damaligen Krisenbewältigungsstrategien zu einem autoritären Wandel des Staates kommt, den er autoritären Etatismus nannte (2002: 231ff.; Kannankulam 2008). Jene Krisenstrategien, die mit der Internationalisierung der Produktion und der Liberalisierung der Finanzmärkte als Beginn der heute als Globalisierung firmierenden Prozesse zu begreifen sind, waren grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass die Produktionsweise insgesamt umstrukturiert wurde (Stichwort neben der Internationalisierung: Automatisierung und Computerisierung), da die standardisierte fordistisch-tayloristische Massenproduktion insgesamt erschöpft war (Lipietz 1987; Lüthje et al. 2002). Poulantzas sieht in diesen Reorganisationsprozessen der siebziger Jahre eine prinzipielle Neuorganisation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufkommen. Dabei kommt es zugleich zu einer neuen Form der “effektive[n] Verwaltung-Reglementierung der Arbeitskraft” (2002: 209), die eine Strategie des fordistischen Staates zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität darstellt. Die Flexibilisierung in der Produktion als Strategie einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität erfordert jedoch als “Gegenstück” eine Öffnung der rigiden fordistischen Kontroll- und Überwachungsdispositive, so Poulantzas 1977. Zugleich ist dieser Prozess jedoch gekennzeichnet von “einer bemerkenswerten Wiederentfaltung des juristisch-polizeilichen Netzwerkes (…), das in neuer Form die fein verästelten Regelkreise der sozialen Kontrolle verdoppelt” und von einer zunehmenden “Weitergabe von Informationen”, die einhergeht mit deren zentraler Erfassung “- die Elektronik verpflichtet! -” sowie der zunehmenden Bedeutung “von Erkennungs- und Nachrichtendiensten” (2002: 217).
Schon Poulantzas macht somit eine paradoxe Doppelbewegung aus: Auf der einen Seite geht der Umbau der Produktionsweise im Zuge der Krise tatsächlich mit mehr “Freiheit” und “Unabhängigkeit” – Eigenverantwortung im aktuell herrschenden Jargon – einher, und dies ist auch erfordert. Auf der anderen Seite bedeutet dies jedoch eine Veränderung/Ausweitung der staatlichen Überwachung und Kontrolle; die mit den Veränderungen in der Produktion verbundenen neuen Qualifikationen der Arbeitskraft machen eine neue Form der Kontrolle und Überwachung erforderlich. Denn: Die Flexibilisierung/Individualisierung der Subjekte birgt grundsätzlich das Risiko in sich, dass sie sich tatsächlich verselbständigen und dem Verwertungsimperativ entziehen.
Der Umbau der fordistischen Sicherheitsarchitektur geht also einher mit der Reorganisation der Produktionsprozesse, was eine Verschärfung der bereits bestehenden fordistischen Kontroll- und Überwachungsdispositive nach sich zieht; schon in Poulantzas’ Analyse zeichnet sich der postfordistische Präventionsstaat bereits ab (vgl. Poulantzas 2002: 217-18).
D.h. also zunächst einmal, dass der sicherheitsstaatliche Umbau und dessen permanente Verschärfung seit den späten siebziger Jahren in engem Zusammenhang steht mit dem postfordistischen Umbau der Produktionsweise. Jene erforderte eine zunehmende Flexibilität und Eigenverantwortung der Arbeitskraft, wie in aktuellen Konzepten und der Rede vom Arbeitskraftunternehmer und der Betonung von “tacit skills” erkennbar (Voß/Pongratz 2003, Atzmüller 2004a,b). Jene flexiblen und eigenverantwortlichen Arbeitskraftunternehmer müssen auf der anderen Seite jedoch beherrscht und “geführt” werden, um sie den kapitalistischen Verwertungsprinzipien dienstbar zu machen. Sichtbar wurde der hierin liegende Widerspruch etwa im Fall des Volvo-Werkes in Uddevalla, in dem die ArbeiterInnen Anfang der neunziger Jahre in Gruppen den Arbeitsablauf selbst bestimmen und organisieren konnten, solange am Monatsende das vereinbarte Arbeitssoll erfüllt wurde. “Der reibungslose Ablauf der Produktion”, so Mario Candeias (2004: 184), “hing jedoch in nie gekanntem Maße vom Engagement und der Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten ab.” Dies bedeutete umgekehrt jedoch, dass die Beschäftigten, deren Produktivität höchstes Niveau erzielte, nicht nur ihren entsprechenden Anteil an den Profiten forderten, sondern zusehends auch danach trachteten, Einfluss auf die Investitionsentscheidungen und Unternehmensstrategien selbst nehmen zu können (ebd.). Die Konsequenz hiervon war, dass Volvo 1993 angesichts der Möglichkeiten zur internationalen Verlagerung der Produktion das Werk in Uddevalla dichtmachte und somit die gestellte Machtfrage zwischen Kapital und Arbeit für sich entscheiden konnte.
Mit dem Umbau der Produktionsweise ist darüber hinaus die Erosion des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses verbunden. An dessen Stelle treten vor dem Hintergrund einer strukturell hohen Arbeitslosigkeit zunehmend prekäre, d.h. unsichere und ungeschützte Arbeitsverhältnisse. Immer mehr Menschen sind somit von der sozial abgesicherten Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtige Sozialkontrolle grundsätzlich damit konfrontiert, so Tobias Singelnstein und Peer Stolle (2006: 31), “diesen Schub sozialer Desintegration und Ausdifferenzierung aufzufangen und Sicherheitsstrategien zur Verfügung zu stellen, die gewährleisten, dass die von sozialer Teilhabe Exkludierten nicht zu einem unbeherrschbaren Risiko werden.”
Gleichzeitig sind jedoch mehrerlei Relativierungen hinsichtlich dieser Argumentationslinie angebracht. So ist zum einen zu konstatieren, dass es keinesfalls allein die zunehmende Überwachung und Fremdkontrolle ist, die die flexibilisierten Subjekte dazu bringt, sich in die postfordistischen Verhältnisse einzufügen. Feststellbar ist beispielsweise, dass die erhöhten Flexibilisierungs- und Qualifikationsanforderungen zu einer zunehmenden Entgrenzung der Arbeit führen, bei der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zusehends verschwinden. In solcherlei entgrenzten und zusehends prekären Arbeitsverhältnissen scheint zumindest vordergründig nicht die Überwachung und Kontrolle von außen maßgeblich zu sein, sondern die “Regierung des Selbst” (Foucault) die neoliberale Produktivität zu gewährleisten.
Zum anderen scheint sich die Ausweitung der Überwachungsmaßnahmen keinesfalls allein auf die hochflexibilisierten und -qualifizierten Arbeitskräfte zu beziehen. Wie in der Geschichte des Kapitalismus nicht neu, geht es auch und v.a. um die “unteren” Segmente des Arbeitsmarktes, in denen Kontrolle und Repression angewandt werden. Und der Skandal um den Lebensmittelkonzern Lidl im März 2008, bei dem aufgedeckt wurde, dass Privatdetektive durch Lochwände und per Videokamera die Häufigkeit der Toilettenbesuche, private Telefonate und ähnliches der MitarbeiterInnen erfassten, um “eventuelles Fehlverhalten” festzustellen, so die offizielle Verlautbarung von Lidl (Tagesspiegel.de v. 26.03.08), weist auch darauf hin, dass Überwachung und Repression sich auf die weiterhin vorhandenen “spätfordistischen” Arbeitsverhältnisse erstreckt; jene sind nicht einfach von der Bildfläche verschwunden.
Und schließlich stehen die genannten Fälle vor allem für privatwirtschaftliche Überwachungsmaßnahmen und nicht für staatliche. Dass hierbei jedoch die Grenzen zwischen privat und staatlich fließend sind, wurde deutlich beim Datenabgleichs- bzw. Überwachungsskandal bei der Deutschen Bahn Anfang diesen Jahres oder der Deutschen Telekom im Juni 2008. Die Telekom ließ, um herauszufinden, wer in der Konzernspitze vertrauliche Informationen an die Presse weitergab, hunderttausende von Verbindungsdaten durchforsten und glich diese mit Telefonnummern von Wirtschaftsjournalisten und Entscheidungsträgern der Telekom ab (SZ v. 26.05.08). Darüber hinaus sollen Bankdaten von Journalisten und Aufsichtsräten ausgespäht sowie mit einer speziellen Software Bewegungsprofile von einzelnen Personen erstellt worden sein (Tagesschau.de v. 14.07.08). Was hierbei deutlich wird, ist, dass wenn die Daten erst einmal (auf Vorrat) erfasst sind, bei aller Beteuerung der verantwortlichen (staatlichen) Seiten, letztlich keiner garantieren kann, dass sie nicht auch von privater oder staatlicher Seite missbraucht werden. Und dass ausgerechnet der vormals staatliche Telekommunikationsanbieter, bei dem laut Geschäftsbericht von 2007 der Bund immerhin noch knapp 15 Prozent und die KfW Bankengruppe knapp 17 Prozent der Aktien hält, die erfassten Daten für Firmenzwecke missbraucht hat, entbehrt dabei nicht einer gewissen Pikanterie. Deutlich wird an den aufgedeckten Skandalen aber auch, dass die zunehmende Überwachung keinesfalls immer zweckdienlich ist. Denn zum einen führt der beschädigte Ruf der Unternehmen sicherlich zu Umsatzeinbußen und zum anderen trägt dies dazu bei, dass die Kunden und die Beschäftigten sensibler werden.
Und dass sich die überwachungsstaatlichen Maßnahmen nicht allein aus “ökonomischem” Kalkül speisen, die noch dazu auch keinesfalls immer zweckdienlich sind, sondern, um Poulantzas’ eigenes berühmtes Diktum hinsichtlich des Staates und seiner Politik zu bemühen, selbst wiederum die materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse darstellen, zeigt sich auch daran, dass sicherheitsstaatliche Interessen und die Idee des starken Staates traditionell von rechts-konservativer und neoliberaler Politik verfolgt wurden und werden (vgl. Salomon 2008; Havel 2009).
Aufstieg des Neoliberalismus und Neokonservativismus
So kam es mit den Aufstieg des Neoliberalismus seit Anfang der achtziger Jahre zu einem ideologischen Paradigmenwechsel. Nicht mehr Vollbeschäftigung und Wohlfahrt für alle ist die Maxime, sondern Leistung, Wettbewerb und “mehr Markt” stehen im Vordergrund. Zusammen mit dem neokonservativen (und v.a. in Deutschland traditionell bestehenden) Leitbild des starken Staates ging es darum, die “Verirrungen” der siebziger Jahre wieder rückgängig zu machen. Denn, so ein Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31.5.1980 (zit. in Saage 1983: 92), es nagen die “persönliche Verweigerung und die parasitäre Inanspruchnahme der Leistungen anderer (…) seit langem an den Grundlagen staatlicher Gemeinschaft. (…) aus einer bedrohten Gefahrengemeinschaft wurde ein Wohlfahrtsstaat, aus diesem ein sozialer Wohlfahrts- und Fürsorgestaat. Er vermag keine Loyalitäten zu schaffen. Man hat an ihn nur Forderungen zu Lasten der anderen.” – ein Zustand, der schlicht als “Dekadenz” bezeichnet wird (ebd.).
Dieser “Dekadenz” auf Seiten derjenigen, die parasitär die Leistungen anderer annehmen, stehe die “Unregierbarkeit” dieser Gesellschaft durch den Staat gegenüber, so das Lamento. Infolge der zunehmenden Bereitschaft der Bürger, den Staat bzw. die Gesellschaft für die individuellen Lebensumstände verantwortlich zu machen, gerieten die Institutionen der Konkurrenz-Demokratie in Widersprüche, die sie selbst nicht lösen könnten. Und angesichts chronischer Arbeitslosigkeit, der Investitionsschwäche der Unternehmen und der hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte sei die Grenze des Sozialstaats erreicht. Ein weiterer Aspekt der konservativen Kritik am Wohlfahrtsstaat war und ist die Angst vor einer schleichenden Durchsetzung des Sozialismus. So sei “auch der gemäßigten Form des Marxismus, dem Sozialdemokratismus, (…) ‘die enge, wesentliche, traditionell-liberale Verbindung von Eigentumssicherung und parlamentarischer Staatsform im letzten etwas Unerträgliches’” (so W. Leisner 1979, zit. in Saage 1983: 103). Denn die sozialdemokratische Variante des Marxismus sehe das parlamentarische System keineswegs an den “Imperativ unbedingter Eigentumssicherung gekoppelt”, sondern erblicke in jenem System “jene List der Vernunft, durch welche die Besitzdemokratie zerstört werden kann: Sie rät den Besitzlosen, die Demokratie, die alte Staatsform des Eigentums, gegen diesen Besitz zu wenden.” (Leisner ebd.)
Beleg dafür sei, so der gleiche Autor eine nach wie vor populäre These vertretend, dass es der Sozialdemokratie gelang, “das ‘Soziale’, ursprünglich der ‘armenpflichtigen Statistik’ zugeordnet, zum ‘Schutz der Schwächeren’ umzuinterpretieren[. Dies zeige, J.K.] ‘etwas von der Macht des revolutionstheoretischen Prinzips, dass die kleinen Unterschiede die wichtigsten sind; je unbedeutender der Schwächerenabstand gegenüber ’stärkeren’ Gruppen in Staat und Gesellschaft zu werden scheint, gemessen an mancher früheren Ungleichheit, desto überzeugender und schärfer können Forderungen gestellt werden.’” (Ebd., 194)
Simpler in den Worten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich Hayek (1981: 38) ausgedrückt: “Gesellschaftliche Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig. Leider Gottes ist das Sozialprodukt nur da, weil Menschen nach ihrer Produktivität entlohnt und dorthin gelockt werden, wo sie am meisten leisten. Gerade die Unterschiede in der Entlohnung sind es, die den einzelnen dazu bringen, das zu tun, was das Sozialprodukt entstehen lässt. Durch Umverteilung lähmen wir diesen Signalapparat.” Und im gleichen Tenor heißt es zur Mindestlohndebatte bei Arbeitgeberpräsident Hundt (23.6.2006): “Derzeit verdienen 3,4 Mio. Vollzeitbeschäftigte weniger als 1.500 Euro, 2,6 Mio. Arbeitnehmer weniger als 1.300 Euro und 1,3 Mio. Menschen weniger als 1000 Euro” – dies, so lässt sich kurz einfügen, entspricht einem Stundenlohn von ca. 6,10 Euro – “Bei Einführung eines Mindestlohns wären viele dieser Arbeitsplätze akut gefährdet” (zit. nach Dahme/Wohlfahrt 2008: 15).
Diese beiden miteinander verbundenen Prozesse und Tendenzen, der kriseninduzierte Umbau der Produktionsweise und der Aufstieg des Neokonservativismus und Neoliberalismus stellen somit m.E. die zentralen Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer die Frage nach dem “Warum” zu beantworten ist. Die neoliberale Formation und ihre “Produktivität” basiert vor dem Hintergrund einer strukturell hohen Arbeitslosigkeit gerade auf der grundsätzlich prekären Lage der Subalternen. Unsicherheit und Angst vor Abstieg – und zwar für die Mehrheit der Bevölkerung – sind Kernelemente dieser Formation, wie auch von herrschender Seite unlängst wieder offen bekanntgegeben (3. Armuts- u. Reichtumsberichtbericht der Bundesregierung. Entwurf v. 19.05.08).[1] Die Kehrseite hiervon ist auf der einen Seite der starke Staat, der einerseits die Aufgabe hat, die Bedingungen für den freien Markt und Wettbewerb als Grundprinzip nötigenfalls auch repressiv herzustellen, wie bspw. in den aktuellen Workfare-Maßnahmen à la Hartz IV erkennbar. Und auf der anderen Seite muss er wie gesagt angesichts der hergestellten latenten Unsicherheit dafür sorgen, dass dies nicht aus dem Ruder läuft. Vor diesem Hintergrund stellt die Ausweitung der Überwachungs- und Repressionsinstrumentarien den letztlich als “Quadratur des Kreises” zu deutenden Versuch dar, diesem Problem zu begegnen. Oscar H. Gandy Jr. (1993; vgl. auch Schulzki-Haddouti 2004) spricht in seiner grundlegenden Arbeit zur politischen Ökonomie persönlicher Daten von der Herausbildung einer “Panoptic Sort”, in der die zunehmende Inwertsetzung von Sicherheit und Information plus den dazugehörigen Technologien Hand in Hand geht mit einer neuen Subjektformierung und einer Veränderung staatlicher Sicherheitspolitik. Und dieselben Instanzen, so Loïc Wacquant (2000: 11), “die gestern noch (…) für ‘weniger Staat’ eintraten, wo es um die Vorrechte des Kapitals und die Ausnutzung der Arbeitskraft ging, fordern heute mit ebensolchem Eifer ‘mehr Staat’, um die verheerenden sozialen Folgen einzudämmen und zu kaschieren, die in den unteren Regionen des sozialen Raums durch die Deregulierung des sozialen Raums durch die Deregulierung der Lohnarbeitsverhältnisse und den Abbau sozialer Sicherung entstanden sind.” So ist ein zentrales Ergebnis neoliberaler Politik die systematische Erzeugung von Devianzphänomenen, auf die dann in populistisch wirksamer Weise repressiv reagiert wird (Wacquant 2000: 85ff.; De Giorgi 2006; grundlegend: Hall et al. 1978). In diesem Sinne geht neoliberale De-Regulierung und Sozialstaatsabbau Hand in Hand mit dem Ausbau des “starken Staates”, wie Andrew Gamble (1988) mit dem Diktum vom “Strong State and the Free Economy” schon für den Thatcherismus betonte.
Parallel dazu kommt es zu einer Umdefinition der Ursachen von Kriminalität. So wurde die “Theorie der Rationalen Wahl” des Nobelpreisträgers Gary S. Becker, mit der dieser versuchte, ökonomische Prozesse zu erklären, zusehends auf “sämtliche Bereiche menschlichen Verhaltens und damit auch auf als kriminell definierte Verhaltensweisen” übertragen (Singelnstein/Stolle 2006: 43; De Giorgi 2006: 91ff.). Nach dieser Theorie wird menschliches Handeln und damit auch Kriminalität als rationaler Abwägungsvorgang zwischen Nutzen und Kosten interpretiert. Das Begehen einer Straftat verspricht demnach einen höheren Gewinn, als sich legal zu verhalten. Singelnstein und Stolle (2006: 44) fassen die Konsequenz dieser Theorie wie folgt zusammen:
“Die Theorie der Rationalen Wahl bedingt in diesem Zusammenhang zweierlei: Einerseits wird Kriminalität entmoralisiert und erscheint als normales, berechenbares Verhalten. Andererseits führt diese Sichtweise zu einer Ausweitung des Adressatenkreises sicherheitspolitischer Strategien, da die Gefahr der Devianz nicht mehr an bestimmten persönlichen Dispositionen festgemacht werden kann, sondern als jedem Individuum immanent angesehen wird. Kriminalität wird als normales Risiko definiert, das es zu kalkulieren gilt; als ein vermeidbarer Unfall und nicht als moralische Abweichung. Die Criminology of the Self geht entsprechend davon aus, dass nicht mehr einige Wenige Straftaten begehen, sondern grundsätzlich alle. Kontrolle – und das ist die sicherheitspolitisch zentrale Schlussfolgerung – muss daher in ihrem Wirkungsbereich grundsätzlich unbegrenzt und umfassend sein.”
Die Konsequenz dieser Theorie ist jedoch noch eine weitere: Jedem wird Freiheit hinsichtlich seiner oder ihrer Handlungen zugesprochen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass ich auch alleine für mein Verhalten verantwortlich gemacht werde. “Für den Bereich der Delinquenz kann die Entscheidung für die kriminelle Handlungsalternative damit nicht mehr auf soziale oder persönliche Defizite zurückgeführt werden, sondern wird als Ausdruck von selbst zu verantwortender ‘Gefährlichkeit’ interpretiert.” (Ebd.)
Vor diesem Hintergrund ist es wohl kaum übertrieben, zu sagen, dass aus Herrschafts- und Kontrollperspektive im Gegensatz zum Fordismus potentiell jede und jeder Teil einer Risikopopulation ist (Singelnstein/Stolle 2006: 57). Jene Risikopopulation beschränkt sich nun nicht mehr wie im Fordismus auf einen kleinen, relativ klar vom funktionierenden “Kern” (der integrierten Arbeiterklasse, dem Heer von Angestellten und Beamten) abgrenzbaren “Rest”, die weder steigenden Sozialstatus noch Konsumfähigkeit vorweisen, oder sich aus politischen Gründen nicht “einfügen” konnten oder wollten. “(I)t seems to be precisely this incapacity to make a clear distinction between ‘threats’ and ‘resources’, between the ‘dangerous’ and the ‘labourious’ classes or, to follow another sociologically successful dichotomy, between ’social junk’ and ’social dynamite’, which compels the institutions of social control to regroup whole sectors of the post-Fordist labour force as ‘categories at risk’, and to deploy consequent strategies of confinemet, incapacitation and surveillance.” (De Giorgi 2006: 76) Und angesichts der Tatsache, dass dem ausgegrenzten “Rest” aufgrund des Rückzugs der wohlfahrtsstaatlichen Integration im Neoliberalismus auch kein materielles Integrationsangebot gemacht werden kann und soll, macht dies Formen der frühzeitigen Kontrolle nötig, um die Abweichung erkennen zu können (Singelnstein/Stolle 2006: 35; Buckel/Kannankulam 2002: 47f.). Noch einmal: Der postfordistische, neoliberale Präventivstaat ist die Kehrseite davon, dass Prekarität die Prämisse neoliberaler Produktivität ist.
Innere Sicherheit als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse
Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die prinzipielle Frage, warum der Staat und dabei v.a. ja das Innenministerium bzw. der Innenminister beständig und vermehrt in jüngster Zeit vorpreschen mit seinen überwachungsstaatlichen Vorschlägen?
Schon nach der Verabschiedung der Anti-Terrorgesetze infolge des 11.09.2001 ließ sich feststellen, dass sich bei der allzu flinken Verabschiedung der damaligen Gesetze eine zynische politische “Durchsetzungsdialektik” geltend machte (Buckel/Kannankulam 2002). Denn ein SPD-Schily konnte die Sicherheitspakete bei geringerem Widerstand durchsetzen als dies unter einem CSU-Beckstein der Fall gewesen wäre. Die damalige “Regierungsverantwortung” von SPD und GRÜNEN band die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Gruppen (und möglichen Widerstandspotentiale) im doppelten Sinne des Wortes. Aber schon damals ließ sich feststellen, dass eine virtuelle Große Koalition von Sicherheitspolitikern sich im Wettlauf um die drastischsten Maßnahmen überbietet und CSU-Stoiber musste auf dem Parteitag versichern, dass sie und nicht Schily “das Original” sind. Heute scheint diese “Durchsetzungsdialektik” immer noch wirksam zu sein, nur dass eben die damalige virtuelle Große Koalition derzeit Realität ist.
Und für die Frage, weshalb es immer wieder das Innenministerium bzw. der Innenminister ist, der mit immer drastischeren Forderungen hervorprescht, aber auch, warum das Bundesverfassungsgericht sich diesen Ambitionen wiederholt widersetzt (vgl. Rath 2008), bietet sich erneut ein Rückgriff auf Nicos Poulantzas’ Staatstheorie an. Von Poulantzas stammt die Argumentation, dass der Staat die materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist (2002, 159). Dies bedeutet, dass das, was sich als staatliche Politik herauskristallisiert, Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ist. Die spezifische Materialität der staatlichen Apparate, wie sie sich etwa in institutionellen Verfahren, dem bürokratischen Apparat und anderer „Eigenlogiken” äußern, trägt jedoch dazu bei, dass sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht unmittelbar, 1:1, in die staatliche Materialität überträgt. [HEF1] Die einzelnen Staatsapparate sind somit Ausdruck und Teil des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses und sorgen durch Mechanismen der “strukturellen Selektivität” dafür, dass nicht alle Probleme in allen Staatsapparaten gleichermaßen zum Zuge kommen (Poulantzas 2002: 165ff.). D.h. dass bestimmte Staatsapparate bevorzugter Sitz von bestimmten Klassenfraktionen und Interessengruppen in der Gesellschaft sind, was jedoch nicht fix und ein für alle mal festgeschrieben ist. Dennoch lassen sich sowohl systematisch als auch historisch spezifische Selektivitäten und Eigenlogiken bestimmter Staatsapparate ausmachen. Und vor diesem Hintergrund ist es auch kein Zufall, dass es immer wieder das Innenministerium ist, das sich in sicherheitsstaatlicher Weise besonders hervortut. Dabei ist es nicht nur so, wie Georg Fülberth (2007) unlängst schrieb, dass man ein besonders “autoritärer, harter Hund” sein muss, um Innenminister zu werden. Sondern die Eigenlogik und strukturell-selektive Wahrnehmung der “Systemumwelt” dieses Staatsapparates selbst erzeugt beständig diesen “Druck”, dies zu tun. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang das, was Claus Offe (1975) einmal das Interesse des Staates (und seines Personals) an sich selbst genannt hat. Denn als Steuerstaat ist der Staat nicht nur ganz grundsätzlich an eine einigermaßen funktionierende Kapitalakkumulation gebunden, sondern darüber hinaus liegen die einzelnen Staatsapparate ja selbst in finanzieller Konkurrenz zueinander und müssen zum anderen auch “Erfolge” vorweisen, wollen sie bzw. die mit ihnen verbundenen Personen und Parteien die nächste Wahl gewinnen.
Im Anschluss hieran stellt sich noch die Frage nach den Interessen im Bereich der Informations- und Überwachungstechnologien selber. Wie stellt sich die Interessenlage der in diesem Bereich tätigen Unternehmen und Gruppen dar? Welchen Einfluss haben deren Lobbytätigkeiten auf die politischen Entscheidungen?
Festzuhalten ist hierbei, dass es sicherlich herausstechende Beispiele gibt, wie bspw. das von Otto Schily der nach seiner Pensionierung Aufsichtsratsmitglied und Anteilseigner bei Safe ID Solutions und der Byometric Systems AG wurde. Zwei Firmen, die Lösungen für biometrische Anwendungen herstellen. Safe ID produziert Hard- und Softwarelösungen für die Herstellung modernster Ausweispapiere, Byometric Systems entwickelt Technik zur Personenidentifizierung anhand der Irisstruktur (ZEIT-Online, 11.08.06). Als Minister hatte Schily bekanntermaßen das Thema “Biometrische Daten” massiv vorangetrieben. Und sicherlich betreiben die hier tätigen Unternehmen auch massive Lobbyarbeit, da das Geschäft mit persönlichen Informationen sich ja zum blühenden Geschäftszweig entwickelt hat und bspw. Banken und der Handel ein großes Interesse an spezifischen Profilen und Informationen haben (Gandy Jr. 1993: 95ff.).
Gleichwohl gibt es auch hier gegenläufige Interessen, denn die Kunden sind ja nicht unbedingt glücklich, wenn der Anwalt der Plattenfirma für das Herunterladen von Musik mehrere tausend Euro einfordert und die entsprechenden Infos von den Providern weitergegeben wurden. So lehnte die Staatsanwaltschaft Wuppertal bspw. die Aufnahme von Ermittlungen gegen Tauschbörsenbenutzer mit der Begründung ab, dass dies schon deshalb unverhältnismäßig sei, da die Tatverdächtigen in den Tauschbörsen “keinerlei finanzielle Interessen” verfolgten (zit. nach Taz.de v. 27.05.08). Auch hier ist somit nicht von einem einheitlichen Interesse, sondern auch von einer widersprüchlichen Kräftekonstellation auszugehen, die sich entsprechend in widersprüchlichen Strategien und Politiken materialisiert.
Schluss: Glas halb leer oder halb voll?
Hinsichtlich der eingangs aufgeworfenen zweiten Frage, was daran in Zeiten terroristischer Bedrohungsszenarien eigentlich zu kritisieren ist, ist zunächst einmal zu konstatieren, dass sich der vorherrschende Tenor der Kritik an den periodisch wiederkehrenden und sich verschärfenden sicherheitsstaatlichen Maßnahmen innerhalb eines liberalen, bürgerrechtlichen Parameters bewegt (Gössner 2007, Prantl 2002). Beklagt wird, dass bürgerliche Freiheiten und der Rechtsstaat dem Sicherheitsdenken geopfert, und damit zentrale Verfassungsprinzipien von Verfassungsministern wiederholt zur Disposition gestellt werden. Abgesehen davon, dass mit der Rede vom zunehmenden Verfall bürgerlicher Freiheiten und der Kritik an der Inszenierung der inneren Sicherheit die kritisierten Phänomene diskursiv mit hergestellt werden (vgl. Kunz 2005), ist gegen diese Art der Kritik zunächst einmal nichts einzuwenden. Denn ganz grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass die erkämpften Freiheitsrechte, die die bürgerliche Demokratie bietet, trotz aller Beschränktheiten zunächst einmal tatsächlich Freiheiten sind, die “man erst schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden.” (Poulantzas 2002: 232)
Aber auch “Kapitalismusimmanent” wäre darauf hinzuweisen, dass Kritik ein zentraler und notwendiger Bestandteil dieser widersprüchlichen Produktionsweise und ihrer Krisen ist. Denn obwohl der “Kapitalismus nicht ohne eine Allgemeinwohlorientierung als Quelle von Beteiligungsmotiven auskommen kann, ist er aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit doch nicht dazu im Stande, den kapitalistischen Geist aus sich selbst heraus zu erzeugen. Er ist auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er sonst nicht einmal erkennen würde.” (Boltanski/Chiapello 2003: 68) Der Überwachungs- und Sicherheitsstaat läuft mit der Erzeugung eines zunehmenden Konformitäts- und Normalisierungsdrucks (Foucault 1977) letztlich Gefahr, diesen notwendigen Stimulus still zu stellen.
Über diese immanente Kritik hinausweisend lässt sich unter Rückgriff auf die mittlerweile in die Jahre gekommene Analyse Herbert Marcuses (1967: 36) festhalten, dass nach wie vor der “kennzeichnende Zug der fortgeschrittenen Industriegesellschaft” darin besteht, diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten zu halten, die “nach Befreiung verlangen”. Innerhalb dieses Zwangs zur Eindimensionalität spottet der Status Quo, bestärkt durch die Leistungen von Wissenschaft und Technik, aller Transzendenz, die darin bestünde, die materielle Produktion derart zu organisieren, “dass alle Lebensbedürfnisse befriedigt werden und sich die notwendige Arbeitszeit zu einem Bruchteil der Gesamtzeit verringert.” (Ebd.) Jene beständig perpetuierte Eindimensionalität ist jedoch die Kehrseite der realen Möglichkeit einer freien, emanzipierten Gesellschaft. Aus dieser Perspektive stellt die Verteidigung (bürgerlicher) Freiheitsrechte auch für eine emanzipatorische Linke eine zentrale Voraussetzung für die eigene Selbstverständigung dar. Die bürgerlichen Freiheiten sind somit zunächst einmal die grundsätzliche und vorhandene Bedingung der Möglichkeit für eine weitergehende Befreiung der Menschen.
Darüber hinaus ist es wichtig, den Sicherheitsdiskurs selbst zu durchbrechen und der hier propagierten Orwellschen Big Brother-Allmacht nicht auf den Leim zu gehen: Hierzu ist einerseits Aufklärung vonnöten. Nicht nur, dass die uns präsentierten Kriminalitätsstatistiken allenthalben zu einer verzerrten Wahrnehmung beitragen (sollen) (Heinz 2008; SZ-Online v. 13.01.08). Sondern darüber hinaus weist mittlerweile sogar Scotland Yard darauf hin, dass die knapp 4,5 Millionen Kameras, die in Großbritannien die Bürger überwachen, “ein völliges Fiasko” seien (SZ-Online v. 08.05.08). Bei aller Vorratsdatenspeicherung u.ä. stellt die Auswertung der Daten doch weiterhin ein kaum zu bewältigendes Problem dar. Und grundsätzlich gilt es, wie hier versucht, sich über die gesellschaftlichen und politischen Interessen und Konflikte zu verständigen, die hinter dem derzeitigen Sicherheitsdiskurs stehen.
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[1] So schreiben Nienhaus/Weiguny auf FAZ-Online (v. 23.05.08) “Neue Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegen: Die Mitte ist in Bewegung geraten – und dahingeschmolzen. 2006 zählte das DIW nur noch 54 Prozent der deutschen Haushalte zur Mittelschicht, also zu denen, die zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. 1992 waren es noch 62 Prozent gewesen, rund fünf Millionen Menschen mehr. Das ist für einige durchaus angenehm. Denn ein Grund für das Schrumpfen der Mittelschicht liegt darin, dass mehr Menschen aufgestiegen sind. Die Klasse der wohlhabenden Haushalte, die mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, ist dadurch größer geworden. Stärker aber noch ist die Zahl der armutsgefährdeten Haushalte gestiegen, also der Haushalte, die weniger als 70 Prozent des mittleren Einkommens haben. Es sind nämlich mehr Mittelschichtler abgerutscht als aufgestiegen. Gleichzeitig haben es weniger arme Menschen geschafft, in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, als zuvor. Dass Unterschicht auch Unterschicht bleibt, ist heute viel wahrscheinlicher als vor wenigen Jahren. Das Gleiche gilt für die Oberschicht. Deutschlands Gesellschaft zementiert ihre Extreme.”